Metzler Philosophen-Lexikon: Meister Eckhart
Geb. um 1260 in Hochheim (bei Gotha
oder Erfurt); gest. 1328 in Avignon (?)
»Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird nie jemand gelehrt und kann auch niemand lehren und schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, damit sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden.« E. wird sich nicht der Illusion hingegeben haben, mit diesem Argument seine Gegner von der Notwendigkeit seiner spezifischen Predigtweise überzeugen zu können. Im Gegenteil dürfte er sich darüber im klaren gewesen sein, daß er mit dem so formulierten Anspruch schließlich scheitern würde.
E. tritt 1277 in das Erfurter Dominikanerkloster ein, geht zum Studium an die Ordenshochschule in Köln und die Pariser Universität, wo er zu Beginn der 90er Jahre als »lector« theologischen Einführungsunterricht erteilt. Die weitere Karriere innerhalb des Ordens verläuft ohne Brüche: Seit 1295 Prior des Erfurter Konvents und zugleich Vikar der thüringischen Ordensprovinz, dessen Aufgabe die Visitation und geistliche Betreuung der Klöster ist; 1302/3 Professor der Theologie in Paris, anschließend bis 1311 Provinzial der neugegründeten Ordensprovinz Saxonia, als welcher er eine Fülle von organisatorischen Aufgaben zu bewältigen hat. 1311 wird er ein zweites Mal an die Pariser Universität berufen, eine Ehre, die vor ihm nur Thomas von Aquin zuteil wurde. Der Orden bedient sich jedoch auch weiterhin nicht nur der wissenschaftlichen Begabung des Meisters. Nach der zweijährigen Lehrtätigkeit in Paris wird E. mit der Nonnen- und Laienseelsorge in Straßburg und dem Oberrheingebiet betraut, bevor er um 1323 noch einmal als akademischer Lehrer berufen wird, diesmal an die Ordenshochschule in Köln. Dieser Wechsel zwischen Universität, Organisation, Verwaltung und Seelsorge prägt wesentlich die unverwechselbare Eigenart von E. Seine geistige Beweglichkeit sowie die Risikofreude, mit der er die theologisch-philosophische Lehre für die Verkündigung fruchtbar macht und umgekehrt die Verkündigung als Maßstab seiner Lehre begreift, hat hierin ihre Wurzel. Indem er so den Bedürfnissen kritischer Christen entgegenkommt, folgt er in erstaunlicher Treue dem fundamentalen Anliegen des Ordensgründers Dominikus: Er will die Zweifelnden überzeugen, nicht überreden. Daher bemüht er sich, »die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen«. Geleitet wird diese Absicht von dem Streben nach unbedingter Originalität, wenn darunter zugleich die Authentizität neuer und ungewohnter Perspektiven des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott verstanden wird; diese glaubt E. seinen Hörern unterm Katheder, aber auch unter der Kanzel schuldig zu sein.
Das während der zweiten Pariser Professur konzipierte Opus tripartitum, mit dem E. seine theologische Summe vorlegen wollte, ist Torso geblieben. Nach dem Prolog zum Gesamtwerk sollte der erste Teil, das Opus propositionum »tausend und mehr« Thesen enthalten, die im zweiten Teil, dem Opus quaestionum, problematisiert und im dritten Teil, dem Opus expositionum, in Auslegungen der bibilischen Bücher erörtert werden sollten. Daß von dem Gesamtwerk nur einige dieser Bibelkommentare ausgeführt wurden, wirft ein erhellendes Licht auf E.s wissenschaftliche Methode, die stets an der Predigt orientiert bleibt. Inhaltlich greift er in zentralen Punkten über Thomas von Aquin hinweg auf die neuplatonische Tradition zurück; statt der thomasischen »analogia proportionalitatis«, nach der das Sein der Kreaturen Anteil hat am Sein Gottes, lehrt er eine »analogia attributionis«: Das Sein der Kreaturen ist das Sein Gottes, es ist völlig und immer neu abhängig vom Sein Gottes, denn »die Kreaturen sind – in ihrer Kreatürlichkeit – ein reines Nichts«. Auch die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Sein und Erkennen in Gott, mit der E. sich schon 1302 auseinandersetzt, kann er daher neu beantworten: Nicht weil Gott ist, erkennt er, sondern weil er erkennt, ist er. Alles Sein wird somit in Gott transzendiert, oder – so lautet die »mystische«, keineswegs aber pantheistische Konsequenz – Gott wird immanent erfahrbar.
Die lateinischen Schriften wurden ergänzt durch deutsche Predigten und Traktate. In ihnen versorgt E. nicht das einfache Volkˆ, von dem klerikale Überheblichkeit abfällig spricht, mit wohldosierten geistlichen Häppchen. Das Faszinierende dieser Predigten ist vielmehr E.s hohe geistliche Autorität, die er selbstbewußt und radikal dazu benutzt, die Zuhörer zu ermuntern, sich selbst auf den Weg zur Gotteserkenntnis zu machen, »denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen«. Wie hoch das Risiko ist, das er damit eingeht, zeigt das 1326 vom Kölner Erzbischof gegen ihn eröffnete Inquisitionsverfahren. Es sind kaum einzelne Lehrsätze, die zur Debatte stehen, sondern es ist der Ernst, mit dem E. – seinem Selbstverständnis als Prediger gemäß – die ganze Wahrheit seinen Hörern vorlegt, die philosophische und theologische, die nach seiner festen Überzeugung einander entsprechen. In der Verurteilungsbulle von 1329, die 28 Aussagen aus seinem Werk als häretisch oder häretisch klingend einstuft, ist E. als Toter erwähnt. Nach einem Besuch in Avignon, wohin er 1327 aufgebrochen war, um sich persönlich vor der päpstlichen Kommission zu verteidigen, verlieren sich seine Spuren.
E.s Verurteilung als Ketzer zwingt den Orden, sich von dem zeit seines Lebens gefeierten Meister zu distanzieren. Seine Nachwirkung bleibt auf kleine religiöse Gruppen beschränkt; Johannes Tauler und Heinrich Seuse bemühen sich, sein Erbe zu bewahren, freilich unter Preisgabe des für E. so charakteristischen Risikos. Die philosophische Lehre von E. kann sich, soweit nicht ohnehin als häretisch disqualifiziert, nicht gegen die des 1323 heilig gesprochenen Thomas von Aquin behaupten. Seit E. im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, nahmen ihn alle möglichen Ideologien als Gewährsmann in Anspruch. Der Idealismus vereinnahmte ihn ebenso als Vorläufer wie der Nationalsozialismus. Erst die neueste Forschung bemüht sich, die reizvolle wechselseitige Durchdringung von Philosophie und Theologie, Wissenschaft und Seelsorge zu erhellen und E. als »Lesemeister« und zugleich »Lebemeister« gerecht zu werden.
Sturlese, Loris: Meister Eckhart. Regensburg 1993. – Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe – Prediger – Mystiker. München 1985. – Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg 1983. – Meister Eckhart der Prediger. Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr. Hg. im Auftrag der Dominikaner-Provinz Teutonia von Udo M. Nix und Raphael Öchslin. Freiburg/Basel/Wien 1960.
Joachim Theisen
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