Metzler Philosophen-Lexikon: Weizsäcker, Carl Friedrich von
Geb. 28. 6. 1912 in Kiel;
gest. 28. 4. 2007 in Söcking
»Zu meinem 12. Geburtstag, im Juni 1924, wünschte ich mir eine drehbare, also auf Tag und Stunde einstellbare Sternkarte. Mit meiner Karte entwich ich von den Menschen in die warme, wunderbare Sternennacht, ganz allein. Das Erlebnis einer solchen Nacht kann man in Worten nicht wiedergeben, wohl aber den Gedanken, der mir aufstieg, als das Erlebnis abklang. In der unaussprechbaren Herrlichkeit des Sternhimmels war irgendwie Gott gegenwärtig. Zugleich aber wußte ich, daß die Sterne Gaskugeln sind, aus Atomen bestehend, die den Gesetzen der Physik genügen. Die Spannung zwischen diesen beiden Wahrheiten kann nicht unauflöslich sein. Wie aber kann man sie lösen? Wäre es möglich, auch in den Gesetzen der Physik einen Abglanz Gottes zu finden?« Diese Frage, mit der W. 51 Jahre später seine Selbstdarstellung beginnt, kennzeichnet die beiden Pole, um die sein Denken kreist: religiöse Erfahrung und naturwissenschaftliche Erkenntnis. W. entstammt einer schwäbischen Familie von Theologen, Gelehrten, Beamten und Offizieren. 1912 in Kiel als Sohn des späteren Staatssekretärs im Auswärtigen Amt unter Hitler Ernst v. W. geboren, übernahm er von seinem Vater den Glauben an die Möglichkeit einer vernunftbestimmten Politik. Eigenes zeigte sich früh: Mit 11 Jahren beginnt er, im Neuen Testament zu lesen, und ist beunruhigt von der Wahrheit der Bergpredigt, die eine nie ganz verlorene Distanz zur Bürgerlichkeit seiner Umgebung zurückläßt. Mit 14 Jahren entscheidet eine erste Begegnung mit Werner Heisenberg seine intellektuelle und berufliche Zukunft: Die Ebene, in der er seine philosophischen Fragen behandelt, wird die der fundamentalen Physik sein, der durch Niels Bohr und Heisenberg entwickelten Quantentheorie. Nach Studium in Berlin, Göttingen und Leipzig promoviert W. 1933 bei Heisenberg in Leipzig und habilitiert sich drei Jahre später. Sein Hauptinteresse gilt einer philosophischen Deutung der Quantentheorie, auch wenn er die Arbeit daran zunächst zugunsten konkreter Fragestellungen der Kernphysik zurückstellte. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er mit Heisenberg und anderen am »Uran-Projekt«, das Hitler die Atombombe in die Hand geben sollte. Da die deutsche Rüstungsproduktion den Bau einer Atombombe nicht möglich machte, glaubten die Physiker, sich für offenen Widerstand nicht entscheiden zu müssen.
Als 1956 die Frage einer deutschen atomaren Bewaffnung erneut aktuell wurde, initiierte W. die »Göttinger Erklärung«, in der die deutschen Atomphysiker ihre Beteiligung an der Herstellung, Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen verweigerten. Die politische Verantwortung der Wissenschaftler für die gesellschaftlichen Folgen ihrer Entdeckungen wurde neben ihrem philosophischen Verständnis für W. zu seinem wichtigsten Arbeitsgebiet. 1957 wandte er sich nach Professuren für theoretische Physik in Straßburg und Göttingen der Philosophie auch institutionell zu; bis 1969 war er Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Die Verpflichtung, Philosophie zu lehren, gab ihm Gelegenheit, zumindest zwei Philosophen gründlich kennenzulernen: Kant und Platon. An Platon faszinierte ihn die Behandlung des Einen, das das Gute ist und der Ursprung von Sein und Wahrheit. Obwohl das Eine, wie im Parmenides-Dialog dargelegt, nicht widerspruchsfrei sagbar ist, kann die Grenze, an der seine Beschreibung Halt machen muß, aus einer rationalen Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität entwickelt werden. Eine solche einheitliche Beschreibung der Welt, die auch die Kriterien für ihre Möglichkeit angeben kann, wollte W. geben; dies schien ihm der philosophische Ort einer fundamentalen Physik zu sein. Bei der Beschäftigung mit Kant entdeckte er, daß dessen Lösung für das erkenntnistheoretische Problem David Humes, wie aus Fakten der Vergangenheit logisch auf Notwendigkeiten der Zukunft geschlossen werden kann, die einzig mögliche sei. Wenn Erfahrung überhaupt möglich ist, so müssen die Naturgesetze notwendig gelten. Dies brachte W. auf den Gedanken, Erfahrung im Hinblick auf die Zeitstruktur zu definieren: Aus Fakten können Möglichkeiten abgeleitet werden. Sein Ziel einer einheitlichen Betrachtung der Welt ist für ihn nur möglich als fundamentale Physik. Fundamentale Physik kann nur die Quantenphysik sein, da nur ihr Axiome zugrunde gelegt werden können, die einzig Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung beschreiben.
Eine solche Rekonstruktion der Physik hat W. über einen Zeitraum von 40 Jahren entwickelt: vom Weltbild der Physik (1943) über Die Einheit der Natur (1971) bis zum Aufbau der Physik (1985); ein vieles abschließendes Buch Zeit und Wissen ist 1992 erschienen. Grundlegende Bedingung jeder Erfahrung ist die Struktur der Zeit: Vergangenheit ist faktisch, Zukunft nur möglich. Aussagen über zukünftige Ereignisse können nur in Form von Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden; das Ideal der klassischen Physik, Zukunftsaussagen in streng kausaler Form machen zu können, widerspricht quantenphysikalischen Erfahrungen. Die physikalische Formulierung dieses Unterschieds zwischen Vergangenheit und Zukunft ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Die darin behauptete Nichtumkehrbarkeit der Zeit folgt gerade aus dieser Zeitstruktur, führt aber nicht zu einer Zunahme von Unordnung, wie in einer an kausalen Aussagen orientierten Interpretation, sondern zu einem Wachstum der Gestaltenfülle in Form von potentieller Information.
Die Logik, die dieser Betrachtung angemessen ist, ist nicht die klassische aristotelische Logik; es ist eine Quantenlogik, die einer Aussage nicht die Wahrheitswerte wahr oder falsch zuordnet, sondern die Modalitäten notwendig, möglich oder unmöglich. Der dreidimensionale physikalische Raum und die in ihm enthaltenen Objekte entstehen in diesem Aufbau der Physik als die Struktur aller Quantenobjekte, die aus einfachen Alternativen (W. nennt sie Uralternativen) durch mehrfache Selbstanwendung der Quantenlogik entstehen. Die Rekonstruktion der Physik auf dieser Basis wiederholt und begründet eine Erkenntnis der Quantentheorie in ihrer »Kopenhagener Deutung« durch Bohr und Heisenberg: Objekte sind immer Objekte für Subjekte, der Beobachter ist nicht scharf vom Beobachteten zu trennen. Hier scheint eine Einheit auf, die den Physiker mit dem Christen W. und dem Freund platonischer und indischer Religiosität in Berührung bringt. Der Kern von W.s Denken ist eine Erfahrung von Einheit, die vor allen Phänomenen ist.
Die durch die weltweite atomare Aufrüstung nach dem letzten Weltkrieg dramatisch verschärfte Frage nach der Möglichkeit dauerhaften Friedens und die Schärfung seines Bewußtseins für gesellschaftliche Zusammenhänge in der Folge der Studentenbewegung führten W. dazu, von 1970 bis 1980 Direktor des »Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« zu werden. Die Zahl seiner Veröffentlichungen zeigt seine wachsende Besorgnis um die Bewahrung des Friedens: 1967 erschien Der Weltfriede als Lebensbedingung des technischen Zeitalters; 1969 Der ungesicherte Friede; 1975 Fragen zur Weltpolitik; 1976 Wege in der Gefahr; 1981 Der bedrohte Friede. Gemeinsam mit Jürgen Habermas gab er der deutschen und internationalen Friedensforschung wichtige Impulse. Als Ursache der bedrohlichen gegenwärtigen Weltsituation erkannte W. die geschichtliche Entwicklung der Hochkulturen seit 6000 Jahren. Die Tatsache, daß es sich um »große« Kulturen handelt, in denen Beziehungen unter ihren Mitgliedern nicht mehr auf der Basis persönlicher Bekanntschaft geregelt werden können, erfordert eine Abstraktion und Quantifizierung gegenseitiger Rechte und Pflichten in Form von Macht und Geld. Die Krisen der Geschichte seither erscheinen so als Stabilisierungskrisen der Hochkulturen, deren Analogie zur Entwicklung biologischer Spezies die Hoffnung begründet, daß sie geschichtlich überholbar sind. 1985 trat er an die christlichen Kirchen der Welt mit dem Vorschlag heran, ein allgemeines Konzil des Friedens abzuhalten, ungeachtet der gewaltigen ökumenischen Probleme, die die Kirchen miteinander haben. »Die Zeit drängt«, so der Titel seines Aufrufs. Aber nach seiner Überzeugung ist die Zeit auch reif. Neben Kants kategorischen Imperativ tritt der Indikativ der Seligpreisungen der Bergpredigt.
Meyer-Abich, Klaus M. (Hg.): Physik, Philosophie und Politik. Für Carl Friedrich von Weizsäcker zum 70. Geburtstag. München 1982. – Wisser, Richard: Verantwortung im Wandel der Zeit. Mainz 1967.
Alexander Hülle
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