Metzler Lexikon Philosophie: Erkenntnisinteresse
Im Anschluss an die Kritische Theorie macht Habermas die Idee der Erkenntniskritik dadurch neu geltend, dass er die Wurzeln aller wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen in den lebensweltlichen, praktischen Interessen ausmacht. Mit Horkheimer und Adorno teilt er die Ansicht, dass im Logischen Positivismus sich die Tendenz einer Verkürzung des Vernunftanspruchs einstellt: Einerseits der naive Glaube an eine Welt fertiger Gegenstände bzw. von Tatsachen, die unabhängig vom Erkennenden sind, andererseits die Annahme der scheinbaren Selbständigkeit des wissenschaftlichen Forschungsprozesses. Gegen beide Aspekte lassen sich Einwände anführen, denn auch der wissenschaftliche Forschungsprozess verdankt sich einem ursprünglichen praktischen Interesse des Menschen und ebenso lässt sich zeigen, dass der Mensch sich seine Welt entsprechend seinen grundlegenden Interessen schafft. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die These, dass die spezifischen Gesichtspunkte, unter denen wir Realität auffassen, ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung haben. Diese Gesichtspunkte gründen in den Bedingungen des Überlebens innerhalb einer gesellschaftlichen, soziokulturellen Lebensform. Drei solcher Bedingungen lassen sich als notwendig für die Reproduktion des menschlichen Lebens namhaft machen: (1) die Bearbeitung der Natur, die sich im Zuge der Entwicklung über das handwerkliche Können zu einem technischen Interesse hin entwickelt hat. In der Form der gegenwärtigen Wissenschaft artikuliert sich das als Interesse an Voraussage und Kontrolle der Ereignisse der natürlichen Welt. (2) Für die Reproduktion des menschlichen Lebens ist es unerlässlich, dass der Einzelne in der umgangssprachlichen Kommunikation eine Grundlage zuverlässiger Intersubjektivität findet. Kommunikationsstörungen in Form von Nicht-Übereinstimmung gegenseitiger Erwartungen sind für das gesellschaftliche Leben und den Einzelnen ebenso bedrohlich, wie das Scheitern in der Bearbeitung der Natur es wäre. Das anthropologisch begründete praktische Interesse besteht in der Sicherung und Erweiterung von Möglichkeiten des gegenseitigen Verstehens und der Selbstverständigung in der Lebenspraxis. Das lebensbedrohliche Moment bestünde in der Unmöglichkeit einer zwang- und gewaltlosen Einigung. (3) Ein weiteres grundlegendes Interesse ist mit der geschichtlichen Entwicklung verbunden. Im Laufe der Entwicklung kann eine Diskrepanz entstehen zwischen denkbaren Erweiterungen der Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten auf der einen Seite und dem, was davon tatsächlich in die gesellschaftliche Praxis Eingang findet auf der anderen Seite. Die Diskrepanz schlägt sich in systematischen Kommunikationsverzerrungen nieder, die die Einrichtung menschlicher Verhältnisse auf der Basis uneingeschränkter Subjektivität verhindern. Eine kritische Stellung gegenüber den eigenen geschichtlichen Prozessen artikuliert sich als emanzipatorisches Interesse. Es gründet in dem Bestreben, sich von naturwüchsigen Zwängen, deren indirekte Gewalt in der Nicht-Durchschaubarkeit liegt, zu befreien.
In den genannten E.n kommen die spezifischen Gesichtspunkte zur Sprache, unter denen Wirklichkeit erfasst wird. Sie entspringen dem Interessenszusammenhang einer Gattung, die an bestimmte Medien der Vergesellschaftung, nämlich Arbeit, Kommunikation und Herrschaft gebunden ist. Die E.n stellen die Grundlage für unterschiedliche Forschungsprozesse dar: (1) das technische E. erfordert die Erzeugung eines gesetzesartigen Wissens (zur Beherrschbarkeit der Naturprozesse), wie es die empirisch-analytischen Wissenschaften leisten. (2) Das praktische E. realisiert sich in den historisch-hermeneutischen Wissenschaften (Geistes-, Geschichts- und Sozialwissenschaften), denen es um ein interpretatives Verstehen sinnvoller Konfigurationen zu tun ist. (3) Dem emanzipatorischen E. wird in den kritisch orientierten Wissenschaften wie der Psychoanalyse, der Ideologiekritik, der kritischen Gesellschaftstheorie und der Philosophie entsprochen. Die E.n stellen allgemeine Orientierungen bzw. allgemeine kognitive Strategien dar, die die verschiedenen Forschungsmodi leiten. Mit dem Positivismus wurde nach Ansicht von Habermas die Vernunft einseitig auf das technische Vernunftinteresse reduziert. Wird dagegen die Vernunft rückgebunden an die gattungsgeschichtlichen Lernprozesse, dann geben die genannten E.n das Spektrum des Vernunftinteresses an.
Literatur:
- D. Böhler: Zum Problem des emanzipatorischen Interesses und seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung. In: W. Dallmayer (Hg.): Materialien zu Habermas’ »Erkenntnis und Interesse«. Frankfurt 1975. S. 351 ff
- J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt 41973
- Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1. Frankfurt 1981. S. 25 ff
- Th. McCarthy: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Frankfurt 1980. S. 69 ff.
PP
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