Lexikon der Physik: Ober- und Grenzflächenphysik
Ober- und Grenzflächenphysik
Nikolaus Nestle, Leipzig, und Berndt Koslowski, Ulm
Die physikalischen Eigenschaften von Oberflächen und Grenzflächen unterscheiden sich oft grundlegend von den Volumeneigenschaften der betreffenden Substanzen. Ihre Erforschung stellt eine wichtige Herausforderung für Physik und Chemie dar, da eine Vielzahl von physikalischen, chemischen, biologischen und technischen Vorgängen durch Grenz- und Oberflächenphänomene bestimmt werden.
Die Begriffe Ober- und Grenzfläche
Eine exakte Definition des Begriffes ›Oberfläche‹ gibt es nicht. Auch die Abgrenzung zwischen ›Grenzfläche‹ und ›Oberfläche‹ fällt relativ schwer. Im engen Sinne kann man unter ›Oberfläche‹ die Grenzfläche zwischen kondensierter Materie und Vakuum, im weiteren Sinne die Grenzfläche als die Fläche, die zwei thermodynamische Phasen voneinander trennt, verstehen.
Welcher Teil eines Körpers Oberfläche und welcher Volumen ist, hängt sehr stark von der spezifischen Fragestellung ab. Abb. 1 gibt eine grobe Übersicht über die Zahl an Atomlagen, die sich bei verschiedenen physikalischen Erscheinungen als Oberfläche verhalten. Analoge Überlegungen gelten auch für Grenzflächen als ›innere Oberflächen‹ zwischen zwei festen oder einer festen und einer flüssigen Phase.
In jedem Fall sind Grenz- und Oberflächen dadurch charakterisiert, daß es dort zu deutlichen Abweichungen des physikalischen Verhaltens gegenüber dem im Volumen kommt. Da der relative Anteil von Randatomen mit abnehmender Strukturgröße stark zunimmt (siehe Abb. 2 ), wird das Verhalten von Nanostrukturen unter Umständen ausschließlich durch Oberflächeneffekte bestimmt. So ist es denn auch ein Ziel der Nanotechnologie, durch Beherrschung der kleinen Strukturen ganz neue ›Materialklassen‹ zu konstruieren.
Beschreibung und Modellierung von Oberflächen
Wesentliche Parameter zur Beschreibung einer Oberfläche sind unter anderem
• die gruppentheoretische Beschreibung der Lage der Oberflächenatome analog zum Volumen eines Kristalls (die Symmetrien der Oberfläche, Oberflächenrekonstruktion),
• die Lage der Oberfläche zu den kristallographischen Achsen eines kristallinen Körpers; diese wird charakterisiert durch die kristallographische Richtung senkrecht zur Oberfläche,
• die Rauhigkeit der Oberfläche (z.B. Stufen, siehe Abb. 3 ),
• die Lage von Korngrenzen relativ zur Oberfläche und
• die Belegung der Oberfläche mit Fremdatomen oder -molekülen ( Abb. 4 ).
Zu diesen ›allgemeinen‹ Kriterien kommen noch weitere, spezielle Oberflächeneigenschaften bei bestimmten Stoffgruppen hinzu, wie z.B. der Oberflächenmagnetismus.
Die gerade genannten Parameter allein sind bereits für eine sehr große Vielfalt an möglichen Oberflächenphänomenen verantwortlich, die in voller Allgemeinheit in keinem geschlossenen Modell erfaßt werden können. Für die Modellierung sowie die experimentelle Untersuchung von Oberflächen ist man deshalb oft an möglichst einfachen, vollständig charakterisierbaren Systemen interessiert. Dies ist am besten gegeben für eine ebene, chemisch und physikalisch reine Oberfläche eines Einkristalls. Experimentell ist das Präparieren solcher Oberflächen allerdings oft mit einem großen Aufwand verbunden (vgl. nächster Abschnitt).
Reine, ebene Oberflächen werden über ein zweidimensionales Gitter beschrieben, dessen Gittervektoren als Linearkombinationen von Gittervektoren des Volumens dargestellt werden können (vgl. Bild 5 ). Die Elementarzelle des Oberflächengitters enthält eventuell mehr Atome als die Elementarzelle des Volumens. Dies ist beispielsweise für Oberflächenrekonstruktionen mit großen Gittervektoren wie der Si(111)7x7 der Fall ( Abb. 6 ).
Experimentelle Verfahren zur Charakterisierung von Grenz- und Oberflächen
Bereitstellung und Erhaltung definierter Oberflächen
Viele Oberflächenphänomene werden bereits durch eine geringe Bedeckung mit Fremdatomen deutlich verändert. Um solche Phänomene beobachten zu können, ist es notwendig, eine Oberfläche möglichst frei von Verunreinigungen zu präparieren und über die Zeit des Experiments zu erhalten. Unter normalen atmosphärischen Bedingungen ist dies fast nie möglich, da selbst die Oberflächen von reaktionsträgen Substanzen innerhalb kürzester Zeit (< 10-6 s) durch eine Schicht von Molekülen bedeckt werden (Adsorption, Chemisorption).
Die Bildung derartiger Schichten ist um so langsamer,
• je weniger Moleküle pro Zeiteinheit auf der Oberfläche auftreffen und
• je geringer die Adsorptionswahrscheinlichkeit (Haftkoeffizient) der betreffenden Moleküle ist.
Ein Weg, die Anzahl der Stoßfrequenz von Molekülen mit einer Oberfläche zu verringern, ist die Verminderung des Umgebungsdrucks. Bei der Arbeit im Ultrahochvakuum (UHV) wird die Stoßrate der Moleküle mit der Oberfläche um 13 Größenordnungen und mehr reduziert, so daß sich selbst bei einem Haftkoeffizienten von 1 erst nach Stunden eine vollständige Belegung der Oberfläche mit einer Monolage ausbildet. Experimente, bei denen man auf reine Oberflächen angewiesen ist, finden deshalb praktisch ausschließlich im UHV statt. Die Herstellung der sauberen Oberflächen erfolgt ebenfalls im UHV, entweder durch Spalten eines Kristalls oder durch Entfernen der Absorbatschicht von ex-situ vorbereiteten Kristallen (beispielsweise durch ›Absputtern‹ mit einem Ionenstrahl oder durch Tempern bei hohen Temperaturen).
Während Adsorptionsvorgänge bei Experimenten mit reinen Oberflächen stören, kann die quantitative Erfassung der Adsorption (z.B. in Form von Adsorptionsisothermen) ihrerseits wiederum zur Charakterisierung von Oberflächen benutzt werden (z.B. Bestimmung der ›inneren Oberflächen‹ von porösen Trägermaterialien). Aus Experimenten zur Desorption, der Umkehrung der Adsorption, kann man unter kontrollierten Bedingungen wichtige Informationen über die Oberflächen erhalten (Desorptionsspektroskopie). Des weiteren kann die Adsorption auch ausgenutzt werden, das Wachstum von Materialien auf geeigneten Substraten gezielt zu verändern (Surfactant).
Oberflächenanalyse mit Teilchenstrahlen
Viele wichtige Meßmethoden der Oberflächenphysik arbeiten mit geladenen oder neutralen Teilchenstrahlen. Bei diesen Meßverfahren ist das Arbeiten im UHV auch für die ungestörte Ausbreitung der Teilchen unverzichtbar. Geladene Teilchenstrahlen und Atomstrahlen haben den großen Vorteil, daß die Reichweite der Strahlen innerhalb kondensierter Materie extrem kurz ist, so daß bei diesen Methoden tatsächlich nur Einflüsse der unmittelbaren Oberfläche registriert werden.
In der Oberflächenphysik sind Methoden mit Elektronenstrahlen besonders verbreitet, da sie stark mit Materie wechselwirken und relativ leicht in einem Energiebereich erzeugt werden können, in denen die De-Broglie-Wellenlänge in etwa interatomaren Abständen entspricht (Interferenzen von De-Broglie-Wellen):
• LEED (Low Energy Electron Diffraction); hier werden niederenergetische Elektronen (ca. 10-500 eV) auf die zu untersuchende Oberfläche geschossen und das Interferenzmuster der rückgestreuten Elektronen auf einem Fluoreszenz-Schirm abgebildet. Die Reichweite der niederenergetischen Elektronen beträgt in typischen Festkörpern weniger als 1 nm, und sie wechselwirken vornehmlich mit der äußeren Schale der Atomrümpfe (Valenzelektronen). LEED ist daher sehr empfindlich für die Struktur der Oberfläche.
• RHEED (Reflection High Energy Electron Diffraction): Im Gegensatz zu LEED kommen hier höherenergetische Elektronen im Bereich von etwa 10-50 keV zum Einsatz. Um trotz der größeren Eindringtiefe solcher Elektronen oberflächenselektiv zu bleiben, wird bei streifendem Einfall des Elektronenstrahls gearbeitet. Im Gegensatz zu LEED, wo über einen sehr großen Raumwinkelbereich detektiert wird, genügt hier ein relativ kleiner Raumwinkel für die Detektion der reflektierten Elektronen. RHEED ist deshalb als in situ-Charakterisierungsmethode bei Epitaxie-Verfahren weit verbreitet ( Abb. 7 ).
• Auger-Elektronenspektroskopie: hier werden die auf Grund des Auger-Effekts von der Probe emittierten Elektronen energieaufgelöst analysiert. Da sich in den Auger-Spektren die Rumpfzustände der Elektronen in einem Atom widerspiegeln, kann direkt auf die chemische Zusammensetzung der Oberfläche geschlossen werden. Bei Ionisation der Oberflächenatome mit einem im Bereich von 100 nm fein fokussierten Elektronenstrahl kann die chemische Information über die Oberfläche auch ortsaufgelöst gewonnen werden ( Abb. 8 ). Auger-Übergänge sind vor allem bei leichten Atomen die wahrscheinliche Form der Energieabgabe. Bei Atomen mit hoher Kernladungszahl sind dagegen strahlende Röntgen-Übergänge häufiger. Auch diese können analog zur Auger-Mikroskopie nach lokaler Ionisation untersucht werden (EDX, Röntgenspektroskopie). Bei mittelschweren Atomen können beide Verfahren angewandt werden. Der Vergleich der Ergebnisse liefert wegen der unterschiedlichen Reichweite von Elektronen und Röntgenphotonen eine zusätzliche Information über Variationen der chemischen Zusammensetzung in einer Schicht von ca. 1 μm Dicke.
• EELS (Electron Energy Loss Spectroscopy, Elektronen-Energieverlustspektroskopie): Bestimmung des Energiespektrums der inelastisch gestreuten Elektronen. Die dadurch beobachteten Energieverluste der Elektronen zeigen charakteristische Werte, die durch die Struktur der Elektronenhülle sowie durch Schwingungen verursacht werden.
• Photoelektronenspektroskopie: Im Gegensatz zu den bisher diskutierten Verfahren werden hierbei keine rückgestreuten Elektronen untersucht, sondern die bei Einstrahlung von Licht (üblicherweise UV- (UPS), Röntgen- (XPS) oder Synchrotronstrahlung (SXPS)) auf Grund des Photoeffekts emittierten Elektronen. Diese Elektronen zeigen bei Anregung mit monochromatischem Licht eine charakteristische Energieverteilung, aus der nicht nur die elementare Zusammensetzung, sondern auch die chemischen Bindungsverhältnisse in der angeregten Oberflächenschicht bestimmt werden können. Deshalb werden Photoelektronenverfahren auch als Elektronenspektroskopie zur chemischen Analyse (ESCA) bezeichnet. Auch dieses Verfahren kann zu einem Bildgebungsverfahren ausgebaut werden (PEEM, Photoelektronen-Emissionsmikroskopie).
Verfahren mit Ionenstrahlen und Atomstrahlen sind komplizierter in der Realisierung, werden aber trotzdem häufig angewandt, da einerseits bei Atom- und Ionenstrahlen mit niedriger Energie eine sehr gute und spezifische Oberflächenselektivität gegeben ist und andererseits bei Ionenstrahlen mit hoher Energie durch den Channeling-Effekt eine sehr genaue Bestimmung von Orientierungswinkeln an der Oberfläche möglich ist.
Grundlegend andere Verhältnisse herrschen bei der Analyse von Oberflächen mit Photonenstrahlen: Die Reichweite von Photonen in einem Festkörper entspricht praktisch immer vielen Atomlagen. Dies ist bei Messungen an Grenzflächen unter Umständen von großem Vorteil. Sind dagegen Effekte in den äußersten Atomlagen eines homogenen Körpers von Interesse, stört das Signal der tiefer liegenden ›Volumen‹-Schichten die Messung, es sei denn, man arbeitet mit schräg einfallenden Strahlen. Zur Analyse von Oberflächen finden vor allem infrarotes und sichtbares Licht im Rahmen von verschiedenen Reflexionsverfahren, mit denen unter anderem Schichtdicken von Adsorbatlagen und oberflächeninduzierte Veränderungen der Spektren der adsorbierten Moleküle detektiert werden können, Anwendung. Besonders verbreitet ist die Ellipsometrie, bei der die Drehung der Polarisationsebene von eingestrahltem Licht infolge des Brechungs- und Absorptionsverhaltens von Oberflächenschichten gemessen wird. Ellipsometrieverfahren können unter günstigen Bedingungen bereits Schichtdickenunterschiede weit unterhalb der Dicke einer Monolage detektieren.
Neben Reflexionsverfahren finden im IR und sichtbaren Spektralbereich auch Streumethoden zur Oberflächenanalyse Verwendung. Besonders interessant ist dabei die oberflächenverstärkte Raman-Streuung (SERS) von Adsorbatschichten an gut leitfähigen Metalloberflächen.
Rastersondenverfahren
Eine weitere Familie von Meßmethoden zur Charakterisierung von Oberflächen stellen Verfahren der Rastersondenmikroskopie dar. Im einfachsten Verfahren liefern diese Methoden rein topographische Informationen, wobei allerdings die Art der abgebildeten Wechselwirkung bei der Interpretation der Topographie berücksichtigt werden muß. Spektroskopische Messungen sind oft schwer zu interpretieren, tragen jedoch zu einem Verständnis der Kontrastentstehung bei. Eine Vielzahl solcher spektroskopischen und erweiterten Methoden ist mittlerweile demonstriert worden; sie sind aber in der Handhabung deutlich aufwendiger als die einfache Rasterkraftmikroskopie oder die Rastertunnelmikroskopie. Außerdem kommen einige von ihnen nur für bestimmte Arten von Proben in Frage. Die Aufnahme von einfachen Topographien hat sich dagegen in den letzten Jahren zu einem sehr wichtigen Routinewerkzeug in der Oberflächenphysik entwickelt.
Radiotracer-Verfahren
Verschiedene Effekte beim Zerfall von radioaktiven Kernen sind von ihrer chemischen und/oder magnetischen Umgebung abhängig (z.B. die gestörte γ-γ-Winkelkorrelation oder der Mößbauer-Effekt). Bringt man solche Kerne in Grenz- oder Oberflächen ein, stellen sie eine hochempfindliche Sonde für die Umgebung dar, in der sie eingebaut sind. Problematisch bei der Anwendung von Radiotracer-Verfahren sind vor allem die kurze Lebensdauer vieler Tracerisotope und die Schwierigkeit, die Tracerisotope an der ›richtigen‹ Stelle einzubauen, da sie in der Regel aus Preis- und Strahlenschutzgründen nur in kleinen Mengen und in bestimmten chemischen Verbindungen verfügbar sind.
Untersuchung von Grenzflächen
Bei Experimenten mit Grenzflächen ist die ›Zugänglichkeit‹ der interessierenden Schicht wesentlich schlechter als bei Oberflächen, so daß Teilchenstrahlen (außer Neutronen) und Rastersondentechniken (außer bei fest-flüssig-Grenzflächen) nur in seltenen Fällen angewandt werden können. Damit kommen für die Untersuchung von Grenzflächen vor allem Verfahren auf Basis von Photonen oder Radiotracern in Betracht. Soweit es sich bei den interessierenden Grenzflächen nicht um glatte, zweidimensionale Flächen handelt, sondern um innere Oberflächen in porösen Medien (z.B. Aktivkohle, poröse Gläser ( Abb. 9 ), Zeolithe), ist der Anteil der Materie im Bereich der Grenzfläche wesentlich größer, so daß hier auch Verfahren mit relativ geringer Nachweisempfindlichkeit wie z.B. die magnetische Resonanz angewandt werden können.
Wichtige physikalische und chemische Phänomene an Grenz- und Oberflächen
Physikalisch gesehen sind Grenz- und Oberflächen von Festkörpern vor allem deshalb bedeutsam, weil sich die Oberflächenbandstrukturen deutlich von denen im Volumen unterscheiden.
Solche Unterschiede zwischen Volumen- und Oberflächenzuständen stellen bei der Realisierung neuer elektronischer Bauelemente mit immer kleineren Strukturgrößen ein wichtiges Problem dar. Das genaue Verständnis und die Kontrolle von Grenzflächenzuständen sind deshalb in der Nanotechnologie von enormer Wichtigkeit. Sie bestimmen beispielsweise entscheidend die Art und die Qualität von Metall-Halbleiterkontakten oder von Metall-Übergitterstrukturen, die beispielsweise zur Herstellung von GMR-Bauelementen (Riesenmagnetowiderstand) erzeugt werden.
An Grenzflächen von Halbleitern mit unterschiedlichen Energielücken bilden sich Bandverbiegungen aus, in denen sich bei geeigneten Dotierungsverhältnissen zweidimensionale Elektronen- oder Löchergase bilden können (Halbleiter-Heterostrukturen). Solche Systeme zeichnen sich durch sehr hohe Ladungsträgerbeweglichkeiten sowie durch eine besonders hohe Effektivität der strahlenden Rekombination von Ladungsträgern aus. Sie bilden deshalb die Grundlage für eine ganze Reihe von speziellen Halbleiterbauelementen wie Höchstfrequenztransistoren und Laserdioden. Außerdem erlauben sie auch die Beobachtung von verschiedenen quantenmechanisch bedingten Effekten wie dem Quanten-Hall-Effekt und der Coulomb-Blockade.
Auch an einer Halbleiteroberfläche adsorbierte Moleküle können zusätzliche Ladungsträger in den Halbleiter einbringen oder aus diesem abziehen. Die dabei auftretenden Änderungen der Leitfähigkeit einer Halbleiterschicht können unter bestimmten Umständen für die Realisierung von chemischen Sensoren genutzt werden.
Auch eine Vielzahl von anderen physikalischen Eigenschaften (z.B. Reibung, Bruchverhalten) wird durch Oberflächeneigenschaften wesentlich mitbestimmt. Das Bruchverhalten einer Probe kann z.B. bereits durch weniger als eine Monolage Material an der Oberfläche stark verändert werden, sofern dieses das Eindringen von Versetzungen in das Material beeinflußt.
An Flüssigkeitsgrenzflächen werden wegen der Beweglichkeit sowohl der Moleküle als auch der Grenzfläche als solcher eine Reihe weiterer wichtiger Phänomene beobachtet wie beispielsweise die Oberflächenspannung und die Ausbildung von orientierten Schichten aus amphiphilen Molekülen (siehe auch weiter unten).
Extrem vielfältig und bedeutsam sind auch die chemischen Phänomene an Grenz- und Oberflächen:
• Kristallwachstum und Epitaxie: Das Aufwachsen von weiteren Lagen desselben oder eines anderen Stoffes an einer Grenzfläche oder Oberfläche hängt unter anderem von Phänomenen wie der Diffusion adsorbierter Teilchen an der Fläche, ihrem Haftungskoeffizienten sowie eventuell bei der Ausbildung der neuen Schicht auftretenden Verspannungen ab. Das Verständnis und die technische Kontrolle dieser Vorgänge spielen eine entscheidende Rolle bei der Weiterentwicklung von Epitaxieverfahren.
• Katalyse: Oberflächenadsorbierte Atome und Moleküle besitzen eine andere elektronische Struktur und andere Korrelationszeiten als in einer Gas- oder Flüssigphase. Dadurch unterscheidet sich auch ihr chemisches Verhalten stark vom freien Zustand. Dieser Sachverhalt wird bei der Oberflächenkatalyse ausgenutzt. Die genaue Charakterisierung der chemischen Eigenschaften adsorbierter Substanzen an Katalysatoroberflächen sowie der bei katalysierten Reaktionen auftretenden Elementarschritte stellt eine wichtige Grundvoraussetzung für die Entwicklung neuer Katalysatormaterialien und die Optimierung katalytischer Reaktionen dar. Bei vielen Katalysatormaterialien kommt es durch die Wechselwirkung der adsorbierten Substanzen auch zu einer Veränderung der Katalysatoroberfläche selbst (z.B. durch Oberflächenrekonstruktion). Derartige Veränderungen der Oberfläche sind für viele komplizierte Effekte im Zusammenhang mit katalytischen Reaktionen (Gedächtniseffekte, wellenförmig verlaufende Reaktionsfronten auf der Katalysatoroberfläche (siehe Abb. 10 ), Materialverlustmechanismen bei Katalysatoren etc.) verantwortlich. Ihre detaillierte Untersuchung ist sowohl technisch als auch wissenschaftlich eine wichtige Herausforderung der Oberflächenphysik.
• Elektrochemische Effekte: Bei elektrochemischen Vorgängen ist die Beschaffenheit der Elektrolyt-Festkörper-Grenzfläche von größter Bedeutung: Adsorbatschichten an der Elektrode selbst sowie die Struktur der um die Elektrode herum gebildeten elektrischen Doppelschicht beeinflussen Überspannungen und andere Erscheinungen, die den Verlauf von Reaktionen in elektrochemischen Zellen oder auch bei Korrosionsvorgängen bestimmen.
• Micellen und Membranen: Solche Strukturen entstehen durch die Interaktion von amphiphilen Molekülen mit Lösungsmitteln: Die Moleküle richten sich so aus, daß die Grenzflächenenergie minimiert wird (siehe Abb. 11 ). Die hierdurch entstehenden Gebilde sind von größter biologischer und chemischer Bedeutung. Die Membranen lebender Zellen bestehen beispielsweise aus einem derartigen ›Lipid-Bilayer‹, der zusätzlich mit einer Reihe von Protein-Molekülen durchsetzt ist, die den Transport verschiedener Stoffe durch die Membran kontrollieren können und so beispielsweise gezielt Ladungsverschiebungen bewirken. Micellen sind vor allem für die Herstellung von Emulsionen wichtig. Zusätzlich spielen sie eine immer größere Rolle als ›Mikroreaktoren‹ für die Erzeugung von Nanostrukturen ( Abb. 12 zeigt in Micellen hergestellte Cluster).
Trends und aktuelle Entwicklungen
Besonders wichtige Impulse hat die Grenz- und Oberflächenphysik in den vergangenen Jahren vor allem durch die Entwicklung immer neuer Verfahren der Rastersondenmikroskopie bekommen. Auf der Basis dieser Methoden sind auch neue Strukturierungsverfahren entstanden, die eine gezielte Manipulation einzelner Atome und Moleküle an Oberflächen erlauben. Es ist davon auszugehen, daß die dadurch entstandenen neuen Möglichkeiten sowohl in der Grundlagenforschung als auch im Zusammenhang mit praktischen Anwendungen der Nanotechnologie in den kommenden Jahren eine wesentliche Entwicklung der Oberflächenphysik darstellen werden. Ein anderes wichtiges Entwicklungsfeld ist die Erarbeitung eines genaueren Verständnisses von Fest-Flüssig-Grenzflächen und ihre gezielte Beeinflussung sowie die Kontrolle der Bewegung von Flüssigkeitströpfchen auf der Nanometerskala. Von einer derartigen ›Nanofluidik‹ sind in den kommenden Jahren sowohl Impulse für die Forschung als auch für die Kopplung zwischen mechanischer und elektronischer Nanotechnologie auf der einen und chemischen Reaktionen auf der anderen Seite zu erwarten (siehe Abb. 13 ).
Literatur:
M. Henzler, W. Göpel: Oberflächenphysik des Festkörpers, Stuttgart 1991.
Ober- und Grenzflächenphysik 4: CO-Inseln auf einer aufgelösten sauerstoffbedeckten Pt(111)-Oberfläche (Bildausschnitt: 12 nm × 12 nm, Tieftemperatur-STM-Aufnahme von J. Wintterlin, FHI Berlin).
Ober- und Grenzflächenphysik 5: Oberflächen-Gitterstrukturen für verschiedene Orientierungen eines kubisch-flächenzentrierten Kristalls mit idealer Oberfläche (d.h. ohne Rekonstruktion).
Ober- und Grenzflächenphysik 8: Elektronenmikroskopbild (oben) und SAM-Bild (unten) der Bruchfläche eines Stahlwerkstücks. Der helle Bereich im unteren Bild zeigt das Vorkommen von Cr und S an. Der Rest der Oberfläche zeigt fast nur Auger-Signale von Fe. (Quelle: Physical Electronics GmbH, Ismaning)
Ober- und Grenzflächenphysik 10: Wandernde Spiralmuster der Reaktionsaktivität bei der katalytischen Oxidation von CO auf einer Pt (110)-Oberfläche. Die für die Musterbildung verantwortliche Nichtlinearität rührt von der adsorbatkonzentrationsabhängigen Veränderung der Oberflächenrekonstruktionen an der Pt-Oberfläche her. (PEEM-Aufnahme von H. Rotermund et al., FHI Berlin, Bildausschnitt: 400 μm × 400 μm)
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