Lexikon der Psychologie: Gruppe
Essay
Gruppe
Felix C. Brodbeck
Bestimmungsmerkmale, Strukturen, Prozesse
Unter einer Gruppe verstehen wir eine Mehrzahl von Personen, die unmittelbar miteinander interagieren ("face-to-face") und sich gegenseitig beeinflussen. Unmittelbare Interaktion und gegenseitige soziale Einflußnahme findet vor allem in Kleingruppen statt, die in der Arbeitswelt sowie in Erziehung, Bildung, Therapie, Sport und Spiel zu finden sind (Kleingruppenarbeit). Auch Paarbeziehungen (Dyaden) und Familien sind als Kleingruppen zu betrachten. Hingegen werden größere Gemeinschaften, z.B. Organisationen und Verbände, als Großgruppen bezeichnet. Diese unterscheiden sich von Kleingruppen durch ihre Größe und durch vorwiegend formale Interaktionsstrukturen. Der kategoriale Gruppenbegriff, der lediglich eine Menge von Personen bezeichnet, die bestimmte Merkmale gemeinsam haben (z.B. Berufsgruppen) wird hier nicht weiter erörtert, ebenso nicht die sozialen Aggregate, "Masse" und "Gesellschaft".
Eine notwendige Bedingung für das Bestehen von Gruppen ist das gemeinsame Streben nach Zielerreichung und Bedürfnisbefriedigung. Ist die Mitgliedschaft in einer Gruppe von hoher Attraktivität, etwa weil Zielerreichung und Bedürfnisbefriedigung im Kontext der Gruppe besser gelingen, dann ist man bestrebt, die Bindung an die Gruppe aufrecht zu erhalten. Die Summe aller Kräfte, die die Bindung an eine Gruppe bewirken – Gruppenkohäsion – ist ein Fundament des Wir-Gefühls in Gruppen.
Alle Gruppen, in denen die Möglichkeit zur sozialen Interaktion über eine längere Zeit besteht, weisen Muster von Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern auf. Diese Gruppenstrukturen lassen sich anhand von graphischen oder Matrixdarstellungen verschiedenartiger Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern abbilden, etwa anhand von Sympathie- und Ablehnungsbeziehungen (Soziometrie), Kommunikationsbeziehungen (wer spricht wie oft zu wem) und Status- bzw. Machtbeziehungen (wer übt in welchem Maße Einfluß auf wen aus, Macht). Auch anhand von Rollen lassen sich Gruppenstrukturen abbilden. Gruppenstrukturen wirken sich auf das Empfinden, Denken und Verhalten der Gruppenmitglieder aus. Sie unterliegen jedoch auch Veränderungen, die durch das Verhalten der Gruppenmitglieder geprägt werden. Deshalb ist eine Abgrenzung der Gruppenstruktur (als statisches Gebilde) vom Gruppenprozess (als dynamischem Ereignis) nicht sinnvoll (Gruppendynamik).
Soziale Einflußnahme in Gruppen
Menschen üben aufeinander häufig unbemerkt, jedoch auf sehr wirkungsvolle Art und Weise sozialen Einfluß aus. Bereits die bloße Anwesenheit anderer Menschen kann zu individuellen Leistungssteigerungen führen (soziale Aktivierung; s. aber auch soziale Hemmung). Auch in sog. "minimalen" Gruppen wird sozialer Einfluß wirksam. Minimale Gruppen entstehen bereits durch eine mehr oder weniger willkürliche Zuordnung von Personen in "Wir" (In-Gruppe) und "Sie" (Out-Gruppe). Die Unterscheidung in "Wir" und "Sie" beeinflußt individuelle Einstellungen, Empfindungen und Verhaltensweisen. So werden als außenstehend betrachtete Personen (Out-Gruppe) im Vergleich zu Personen, die als Mitglieder der In-Gruppe betrachtet werden, eher negativ etikettiert und diskriminiert, etwa bei der Bewertung ihrer Eigenschaften, bei Sympathieeinschätzungen und bei der Verteilung von Gütern (Out-Gruppen Diskriminierung, In-Gruppen Favorisierung).
Gegenseitige Einflußnahme der Gruppenmitglieder wird vor allem durch Normen und Konformitätsdruck vermittelt. Gruppennormen sind sozial geteilte Erwartungen über angemessene Verhaltensweisen und Einstellungen. Ein Bewußtsein von Gruppennormen ist bei der Orientierung und Regulation der sozialen Interaktion unerläßlich. Die Wirksamkeit von Normen ist an einer gewissen Einheitlichkeit individueller Einstellungen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungen in Gruppen erkennbar (autokinetischer Effekt). Konformität basiert auf den vom einzelnen antizipierten oder erlebten Sanktionen normgebundener Verhaltensweisen in Gruppen. In jüngster Zeit wurden unerwünschte Folgen von sozialem Einfluß anhand von Fallstudien folgenschwerer politischer Entscheidungen in der Praxis untersucht (Gruppendenken). Angesichts des starken Einflusses, der von Mehrheiten in Gruppen ausgeübt wird, ist es bemerkenswert, daß sich kleine Minderheiten dennoch gegenüber dem Status Quo durchsetzen können und deshalb als Triebkraft von Veränderung und Innovation anzusehen sind. Abweichende Minoritäten üben Einfluß auf die Mehrheit aus, wenn sie einen Konflikt mit der Mehrheitsposition erzeugen und ihre Position konsistent und anhaltend vertreten. Dabei sollten sie nicht rigide wirken und ein starkes Vertrauen in das, was sie vertreten oder tun, signalisieren (Minoritätseinfluß).
Gruppenleistung und Prozeßverluste
Seit den Anfängen der Sozialpsychologie werden Fragen der Gruppenproduktivität experimentell untersucht. Heute weiß man, daß Gruppenarbeit bei Entscheidungs- und Problemlöseaufgaben in der Regel zu deutlich besseren Leistungen führt als auf Basis der durchschnittlichen Einzelleistungen der Gruppenmitglieder vorherzusagen ist. Allerdings erreicht die Gruppe meist nicht die Leistung ihres besten Gruppenmitglieds (Potenialmodell der Gruppenleistung). Deshalb ist in diesen Fällen Gruppensynergie nicht erkennbar. Untersuchungen individueller Leistungen, die in verschiedenen experimentellen Gruppenkontexten erbracht werden (individuelles Arbeiten unter Beobachtung, paralleles Arbeiten, kollaboratives Arbeiten), bestätigen die Auffassung, daß Gruppenarbeit im wesentlichen mit Prozessverlusten verbunden ist. Motivationsbedingte Prozessverluste (soziales Faulenzen, Trittbrettfahrer-Effekt, Gimpel-Effekt) lassen sich durch Gestaltung der Arbeitsaufgabe und der Rückmeldungsbedingungen verringern (konkrete Leistungsstandards und Rückmeldung, interessante und herausfordernde Aufgaben, das Erkennbarmachen der Wichtigkeit des individuellen Beitrags für die Bewältigung der Gruppenaufgabe). Koordinationsbedingte Prozessverluste (Produktionsblockierung) sind durch Verfahren reduzierbar, die interaktionsbedingte Störungen des individuellen Denkens und Handelns eliminieren (Delphi-Methode oder asynchrone computergestützte Kommunikation Groupware). Nur sehr selten konnte nachgewiesen werden, daß Gruppenarbeit zu Gruppensynergie führt (soziale Kompensation, Köhler-Effekt).
Neuere Forschungsergebnisse
Die angewandte Gruppenforschung hat einige neue Erkenntnisse hervorgebracht (West, 1996), beispielsweise über Sozialisation in Arbeitsgruppen, Projektgruppenarbeit und Partizipation sowie über Innovation und Kreativität in Teams, und hat damit die grundlagenorientierte Gruppenforschung in den Schatten gestellt. Erst in jüngster Zeit hat diese wieder an Boden gewinnen können, indem sie soziale Kognitionen nicht nur an isolierten Personen untersucht, sondern die Einflüsse sozialer Interaktion verstärkt berücksichtigt und Gruppen als analytische Einheit betrachtet (Nye & Brower, 1996). Vordenker dieses neuen Trends beschäftigten sich mit der Frage, wie individuelle Ressourcen im Kontext der Gruppe zusammengeführt werden und unter welchen Bedingungen Prozessverluste und Verzerrungstendenzen minimiert werden können. Eine der bekanntesten Verzerrungstendenzen ist die Gruppenpolarisation. In Fortführung dieses Erklärungsansatzes wurden in jüngster Zeit Entscheidungssituationen untersucht, in denen die Gruppenmitglieder über sozial geteilte Informationen (alle besitzen die gleichen) und sozial ungeteilte Informationen verfügen (jeder besitzt einzigartige Informationen). Sozial geteilte Informationen werden überproportional häufiger in Gruppendiskussionen zur Sprache gebracht als sozial ungeteilte Informationen. Dieser Effekt läßt sich durch Bedingungen reduzieren, die die Nutzungswahrscheinlichkeit sozial ungeteilter Informationen erhöhen, z.B. durch Vermeidung von Informationsüberlastung, Verteilen von Expertenrollen und durch Vermittlung des Eindrucks, es handele sich um eine Problemlöseaufgabe, in der es eine identifizierbar richtige Lösung gibt.
Paradigmatisch für die Frage nach dem Zusammenführen individueller Ressourcen in Gruppen ist die Forschung zu sozialen Entscheidungsregeln, d.h. probabilistische Modelle der Transformation individueller Präferenzen in eine Gruppenpräferenz. Damit lassen sich praktizierte soziale Entscheidungsregeln abbilden und mit Erwartungsmodellen vergleichen ( Abb. ).
In einem zweiten Schritt ist untersuchbar, worin die Ursachen für die auftretenden Differenzen bestehen. Und in einem dritten Schritt können Bedingungen identifiziert werden, die eine optimale Zusammenführung individueller Präferenzen zu einer Gruppenpräferenz unterstützen.
Obwohl uns die Praxis der Gruppenarbeit, die im Rahmen der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung untersucht wird, die produktivitätssteigernde Wirkung dynamischer Entwicklungen von Gruppenstrukturen und Gruppenprozessen vor Augen führt (Gruppenlernen, Organisationales Lernen), findet man hierzu vergleichsweise selten experimentelle Studien. Gruppenarbeit kann zu individuellen Leistungsverbesserungen führen, die über das hinausgehen, was ohne Gruppenarbeit erlernt worden wäre. Theoretisch müßten sich diese individuellen Lerngewinne, vermittelt über ein verbessertes Gruppenpotential, auch positiv auf spätere Gruppenleistungen auswirken. Individuelle Lerngewinne, die durch systematische Gestaltung kooperativer Lernsituationen bedingt sind, konnten in der pädagogischen Forschung häufiger gezeigt werden (kooperatives Lernen). Aber auch hier herrscht bisher ein Mangel an empirisch gesicherten Erklärungen.
Gruppenkonflikte
Die soziale Urteilstheorie hat kognitive Konflikte zwischen Gruppenmitgliedern zum Gegenstand, die aus idiosynkratischen Gewichtungen von Merkmalen und Beurteilungen eines Sachverhaltes entstehen. Wenn immer wieder Entscheidungen der gleichen Art zu fällen sind, ist beobachtbar, daß idiosynkratische Urteilsregeln zunehmend aufeinander abgestimmt werden. Dieser gegenseitige Anpassungsprozess ist allerdings mit Kosten verbunden, nämlich mit größerer Unsicherheit und Fehlerhaftigkeit in der Anwendung der neu angepaßten Regeln, und damit – zumindest vorübergehend – mit neuen kognitiven Konflikten. In jüngster Zeit wird in Experimenten untersucht, inwieweit die Kosten dieses Anpassungsprozesses durch Computerunterstützung (Groupware) und Teamentwicklung reduziert werden können, so daß die Profite, die durch gegenseitige Anpassung von Urteilsheuristiken entstehen, hervortreten können.
Besondere Beachtung, sowohl in der sozialpsychologischen Grundlagenforschung als auch in der angewandten Gruppenforschung, erfährt zur Zeit das Konzept des transaktiven Wissenssystems, d.h. ein von einer Dyade oder Gruppe geteiltes System der Enkodierung, Speicherung und des Abrufs von Informationen. Durch transaktive Wissenssysteme sind einzelnen Gruppenmitgliedern Wissensbestände zugänglich, die nicht sie selbst, sondern andere Mitglieder gespeichert haben. In Paarbeziehungen und in Arbeitsgruppen, die gemeinsam für die Ausführung einer komplexen Aufgabe trainiert werden, entwickeln sich transaktive Wissenssysteme. Dadurch verbessert sich ihre kooperative Aufgabenausführung (z.B. durch gegenseitige Hilfe bei Wissenslücken und gegenseitige Fehlerkorrektur). Diese und weiterführende Forschungsfragen werden in jüngster Zeit unter der Perspektive von Gruppen als informationsverarbeitende Systeme in der sozialpsychologischen Grundlagenforschung untersucht (zusammenfassend Hinsz, Tindale & Vollrath, 1997).
Literatur
Hinsz, V. B., Tindale, R. S. & Vollrath, D. A. (1997). The emerging conceptualization of groups as information processors. Psychological Bulletin, 121, 43-64.
Levine, J. M. & Moreland, R. L. (1990). Progress in small group research. Annual Review of Psychology, 41, 585-634.
Nye, J. L. & Brower, A. M. (1996). What´s social about social cognition. Research on socially shared cognition in small groups. London, England: Sage Publications.
West, M. (1996). Handbook of work group psychology. Chichester, England: Wiley & Sons.
Perls, F.S., Hefferline, R.F. & Goodman, P. (1979). Gestalt-Therapie (2 Bde.). Stuttgart: Klett-Cotta (Orig. New York, 1951).
Petzold, H. (1984). Die Gestalttherapie von Fritz Perls, Lore Perls und Paul Goodman. Integrative Therapie 10 (1-2), S. 5-72.
Rahm, D., Otte, H., Bosse, S., Ruhe-Hollenbach, H. (1993): Einführung in die Integrative Therapie. Grundlagen und Praxis. Paderborn: Junfermann.
Walter, H.-J. (1977). Gestalttheorie und Psychotherapie. Darmstadt: Steinkopff/UTB.
Zinker, J. (1982) Gestalttherapie als kreativer Prozeß. Junfermann: Paderborn (Orig. New York, 1977).
Abb. Gruppe. Zwei soziale Entscheidungsregeln am Beispiel von drei-Personengruppen (Alternative A ist besser als Alternative B).
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