Lexikon der Psychologie: Traum
Essay
Traum
Michael Schredl
Traumarten
Das Träumen läßt sich definieren als psychische Aktivität während des Schlafes. Das Träumen selbst ist für die Forschung selbst nicht zugänglich, sondern nur der rückerinnerte Bericht: der Traum. Dabei werden im allgemeinen folgende “Traumarten” unterschieden ( Tab. ).
Die ersten drei “Traumarten” werden nach dem Bezug zu dem aufgetretenen Schlafstadium benannt. Während man zu Beginn der experimentellen Traumforschung davon ausging, daß nur im REM-Schlaf geträumt wird, weiß man heute, daß im normalen Schlaf und im Tiefschlaf ebenfalls mentale Aktivität auftritt. Allerdings wird diese im Gegensatz zu den bildhaften lebendigen Träumen des REM-Schlafes eher als gedankenartig bezeichnet, diese Übergänge sind jedoch fließend. Den Phänomenen Alpträume, Pavor nocturnus und posttraumatische Wiederholungen ist gemeinsam, daß es sich um Erwachen mit Angst handelt; sie werden unter Alptraum genauer definiert. Luzide Träume sind ein Spezialfall der REM-Träume und bieten spannende Möglichkeiten für die Forschung.
Traumerinnerung und Traumerhebung
Obwohl jede Nacht geträumt wird, kommt es zu großen interindividuellen und intraindividuellen Unterschieden in der Traumerinnerung. Die bisherige Forschung hat folgende Faktoren identifiziert, die mit einer höheren Traumerinnerung einhergehen: niedrige Schlafqualität/häufiges nächtliches Erwachen, die Persönlichkeitsdimension “Dünne Grenzen”, gutes visuelles Gedächtnis, ausgeprägtes Phantasieleben und Kreativität, Streß und eine positive Einstellung zu Träumen. Auf der anderen Seite zeigten allgemeine Intelligenz oder Persönlichkeitsdimensionen wie Introversion oder Verdrängung keine nennenswerten Zusammenhänge. Diese Befunde stützen Modelle, die Gedächtnisprozesse (Salience und Interferenz) und das Erwachen nach dem erlebten Traum betonen. In der Praxis werden überwiegend drei Methoden der Traumerhebung eingesetzt: Fragebogen/Interview, Tagebuchverfahren und Laborweckungen. (Retrospektion). Der Vorteil der Laborweckung besteht darin, daß physiologische Parameter während des Schlafes gemessen werden können, Weck- und Erhebungsbedingungen standardisiert und die “Traumausbeute” sehr hoch ist. Wie allerdings Studien zeigen, werden die Trauminhalte stark durch das Laborsetting beeinflußt (bis zu 50 %) und sind emotional weniger intensiv. Einen Mittelweg bieten standardisierte Traumtagebücher, die von den Probanden zu Hause geführt werden.
Eine grundlegende Methode der psychologischen Traumforschung ist die Trauminhaltsanalyse. Hier werden z. B. Traumberichte von Gesunden und depressiven Patienten “gemischt” und durch einen externen Beurteiler anhand vorher festgelegter Skalen eingeschätzt. So können die Bizarrheit, das Vorkommen von Aggression und vieles mehr quantifiziert und mit üblichen statistischen Methoden ausgewertet werden. Ein komplettes Ratingsystem wurde 1966 von Hall und Van de Castle erstellt (Domhoff 1996) und seitdem häufig angewendet. Während Fragen der Reliabilität (Meßgenauigkeit) zufriedenstellend gelöst sind, ist die Frage der Validität von inhaltsanalytischen Skalen nur unzureichend untersucht.
Ergebnisse der Traumforschung
Im folgenden werden Ergebnisse bzgl. allgemeiner Aspekte des Traums, des Zusammenhangs zwischen Trauminhalt und Physiologie und der Beeinflussung von Träumen dargestellt. Dabei beziehen sich fast alle Studien auf REM-Träume. Über 90 % der Träume sind dadurch gekennzeichnet, daß das Traum-Ich am Geschehen beteiligt ist. Es ist daher selten ein vor dem inneren Auge ablaufender Film, sondern Träume sind mit dem Wacherleben vergleichbar. Während ein Viertel der Träume sehr realitätsnah ist, ist ein weiteres Viertel von bizarren, im Wachleben unmöglichen Dingen geprägt. Der Großteil enthält durchaus realistische Bilder, die durch ungewöhnliche Verknüpfungen zusammenhängen. Die Traumgefühle sind bei Gesunden ausgeglichen, wenn subjektive Einschätzungen die Datengrundlage bilden. Alle Träume enthalten visuelle Eindrücke, in ca. 70 % der Träume sind auditive Wahrnehmungen vorhanden. Geschmacks-, Geruchs- und Schmerzempfindungen sind in weniger als 1 % der Träume nachweisbar.
Wenig untersucht sind kinästhetische Empfindungen wie Fliegen, Fallen etc. Blindgeborene Menschen träumen zwar ohne visuelle Eindrücke, jedoch sind ihre Träume durchaus mit denen von Sehenden vergleichbar, z. B. bzgl. der Anzahl der Traumpersonen oder Interaktionen. Farben scheinen ebenfalls in fast allen Träumen vorzukommen, jedoch werden sie selten spontan berichtet, wenn sie im Traum eine untergeordnete Rolle spielen, z. B. Gesichtsfarbe, Farbe der Kleidung. Typische Geschlechtsunterschiede in Träumen sind das häufige Auftreten von Männern, Aggressionen und sexuellen Themen in Männerträumen (Sexualität), während Frauenträume insgesamt mehr Personen und Emotionen enthalten. Dies steht in Einklang mit Ergebnissen von Metaanalysen zu Geschlechtsunterschieden im Wachleben. Auch Persönlichkeitseigenschaften stehen in Verbindung mit den Trauminhalten, so träumen kreative Menschen bizarrer und lebendiger. Die Befunde auf diesem Gebiet sind jedoch sehr heterogen, wobei berücksichtigt werden muß, daß wegen der hohen Variabilität der Trauminhalte eine größere Traumstichprobe (etwa 20 Träume) pro Person analysiert werden sollte, um Traitaspekte des Traumerlebens zuverlässig zu messen. Die experimentelle Schlaf- und Traumforschung (seit 1953) bietet die Möglichkeit, physiologische Parameter des REM-Schlafes mit Traumberichten aus anschließenden Weckungen in Beziehung zu setzen. Befunde legen nahe, daß die REM-Periodendauer vor Weckung in etwa mit der Traumlänge übereinstimmt. Die “Scanning”-Hypothese besagt, daß die Augenbewegungen des REM-Schlafes Ausdruck der Augenbewegungen im Traum sind. Obwohl eine schwache Beziehung nachgewiesen werden konnte, scheint keine Eins-zu-Eins-Entsprechung vorzuliegen. Ähnlich ist die Befundlage zum Bezug von autonomen Parametern und Trauminhalt (Traumgefühlen). Während für Alpträume ein deutlicher Anstieg in Puls- und Atemfrequenz sichtbar wird, ist das Bild bei “normalen” Träumen uneinheitlich. Auch die sexuellen Erregungsprozesse während des REM-Schlafes weisen eine lockere Verbindung zum Trauminhalt auf; so verringert ausgeprägte Angst die Erektion deutlich, während erotische Inhalte förderlich sind. Interessante neuere Studien zeigten Verbindungen zwischen den Traumaktivitäten Sprechen und Hören und der EEG-Aktivität über dem entsprechenden Gehirnareal (Broca- und Wernicke-Zentrum). Durch Stimulation mit verschiedenen Reizmodalitäten (Lichtblitze, Töne, Gerüche, leichte Elektroschocks, Druckreize) konnte gezeigt werden, daß externe Reize, die während des Schlafes auf die Person einwirken, zum Teil in den Traum integriert werden. Am deutlichsten sind die Effekte für “nahe” Reize, d. h. Druckreize und leichte Elektroschocks. Brillen mit Rotfilter, die von Personen über 5 Tage getragen wurden, führten zu “roten” Traumbildern. Eine Reihe von Experimenten liegt zum Einfluß des Vorabends auf den Trauminhalt vor. Dabei wurden Filme, Phantasiegeschichten oder Vorstellungsübungen eingesetzt. Die Befunde zeigen recht einheitlich, daß eine direkte Inkorporation der experimentellen Manipulation selten stattfindet, jedoch die allgemeine Gefühlstönung deutlich beeinflußt wird. Einige Forscher sind dazu übergegangen, “realen” Streß, z.B. eine bevorstehende Operation, zu untersuchen. Hierbei sind die Effekte auf den Trauminhalt deutlicher. Dieses wird ebenfalls von Studien belegt, die Auswirkungen von Traumata (sexueller Mißbrauch, Kriegserlebnisse, Naturkatastrophen) auf Träume untersucht haben.
Ein weiteres Forschungsfeld stellt das Traumerleben von Patienten mit psychischen Störungen dar. Im wesentlichen zeigt sich eine Kontinuität der Psychopathologie mit den Trauminhalten. Das Traumerleben von depressiven Patienten ist vorwiegend negativ getönt und enthält Themen wie Tod und Zurückweisung. Bizarre Inhalte sind bei schizophrenen Patienen zu finden. Die Beschäftigung mit dem Thema Essen oder Nahrungsverweigerung spiegelt sich in den Träumen von Patienten mit Anorexie oder Bulimie wider. Inwieweit Traumdeutung oder das Arbeiten mit Träumen für diese Personengruppen sinnvoll sind, wurde zwar in vielen Fallbeschreibungen anschaulich aufgezeigt; aber empirische Studien, wie sie in der Psychotherapieforschung üblich sind, wurden nur vereinzelt durchgeführt. Zusammenfassend gesehen stützen die bisherigen Befunde die sogenannte Kontinuitätshypothese des Traumerlebens, d. h. Träume spiegeln das Wachleben wider. Denkansätze, die Träume für Zufallsprodukte halten oder kompensatorisch zum Wachleben sehen, haben bislang wenig Bestätigung erfahren. Die Funktion von Träumen läßt sich unter drei Gesichtspunkten betrachten: die Funktion des REM-Schlafes, die Funktion des Träumens als psychische Aktivität während des REM-Schlafes und die Funktion von erinnerten Träumen. Am deutlichsten sind die Befunde, daß der REM-Schlaf sowohl bei Säugetieren als auch beim Menschen für die Gedächtniskonsolidierung eine wichtige Rolle spielt. Neuere Studien sehen besonders starke Zusammenhänge für das prozedurale Gedächtnis. Inwieweit auch andere Schlafstadien eine Rolle spielen, z. B. für das deklarative Gedächtnis, ist noch ungeklärt. Ob dem Träumen ebenfalls diese Funktion der Konsolidierung zukommt, ist schwer zu beantworten, da zum einen der bewußt erinnerbare Traum nur einen geringen Teil der Gehirnaktivität während des REM-Schlafes darstellt (vgl. Wachbewußtsein zu Gesamtgehirnaktivität) und zum zweiten sich die empirische Überprüfung sich schwierig gestaltet, da Träume nur meßbar sind, wenn sie erinnert werden. Diese Erinnerung (Erzählen und Aufschreiben) selbst kann weitere Denkprozesse unabhängig von der nächtlichen Aktivität auslösen. Ein gängiges Denkmodell der modernen Traumforschung ist die sogenannte “Mastery”-Hypothese, die besagt, daß Träumen vergleichbar mit der Wachaktivität des Denkens dem Problemlösen dient.
Eine Fülle von Literatur beschreibt, wie erinnerte Träume kreative Anregungen geben (Kunst, Literatur), hilfreich in der Psychotherapie (Traumdeutung) sind usw. Allerdings liegt bis heute wenig Forschung dazu vor, wie sich Träume auf das Wachleben auswirken. Als kritischer Geist könnte man anmerken, daß die morgendliche Lektüre von psychologischer Literatur vielleicht genau solche Effekte hervorruft, so daß die Frage nach der Funktion des Träumens nach wie vor ein zu lösendes Rätsel bleibt.
Literatur
Domhoff, G. W. (1996). Finding meaning in dreams: a quantitative approach. New York: Plenum.
Schredl, M. (1999). Die nächtliche Traumwelt. Eine Einführung in die psychologische Traumforschung. Stuttgart: Kohlhammer.
Strauch, I. & Meier, B. (1992). Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen Traumforschung. Bern: Huber.
Van de Castle, R. L. (1994). Our dreaming mind. New York: Ballentine.
Winget, C. & Kramer, M. (1979). Dimensions of dreams. Gainsville: University Presses of Florida.
Tab. Traum. Traumarten.
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