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Eine Prise Chemie: Wein auf Entzug

Alkoholfreier Wein schmeckt anders als Wein. Das liegt nicht nur an fehlenden Aromastoffen, sondern auch daran, dass Alkohol selbst die Wirkung bestimmter Substanzen beeinflusst.
Aufnahme zweier Weingläser, deren Stiele sich überkreuzen; in ein Glas wird Rotwein gefüllt, in das andere Weißwein.
Weine ohne Umdrehungen werden immer beliebter.

Unser Essen steckt voller chemischer Details: Hier tummeln sich leckere, wohltuende und auch schädliche Inhaltsstoffe, die faszinierende Reaktionen vollführen, wenn wir ein Gericht zubereiten oder verspeisen. In der Kolumne »Eine Prise Chemie« stellen wir die spannendsten davon vor und räumen mit Mythen über Chemie in unserer Nahrung auf.

Für die einen klingt es absurd, für die anderen völlig logisch: Alkoholfreie Weine werden immer beliebter. Ich gebe zu, bis vor Kurzem gehörte ich zu den Skeptikerinnen. Meinen ersten alkoholfreien Wein habe ich rein versehentlich gekauft, und er war eine solche sensorische Katastrophe, dass ich mir schwor, nie wieder ein derartiges Getränk anzurühren. Das war allerdings im Jahr 2009. Heute wächst der Markt für alkoholfreie Weine stark, und damit die Auswahl und Qualität. Bis zum Jahr 2034 soll der Markt von derzeit 2,6 Milliarden US-Dollar bei einer jährlichen Wachstumsrate von mehr als zehn Prozent auf 6,9 Milliarden steigen, in Deutschland sind rund neun Prozent Wachstum pro Jahr vorhergesagt. Es ist also an der Zeit, sich ernsthaft mit der Frage zu beschäftigen, was einen guten alkoholfreien Wein ausmacht und wie man ihn herstellt.

Um einen alkoholfreien Wein zu erhalten, den man als solchen bezeichnen darf, muss man zunächst einen »normalen«, alkoholhaltigen erzeugen: das heißt aus Weintrauben den Saft gewinnen (den Most) und diesen vergären. Hefen wandeln dabei den Zucker aus den Trauben in Alkohol um. Anschließend wird der Wein normalerweise für mehrere Monate in Fässern gelagert, bevor er in Flaschen abgefüllt wird.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einem Wein den Alkohol nach der Gärung wieder zu entziehen. Zum einen funktioniert das über Destillation. Dabei entfernt man das Ethanol (den Trinkalkohol), indem man die Flüssigkeit bei einer leicht erhöhten Temperatur und unter Vakuum destilliert. Ethanol hat einen höheren Dampfdruck als Wasser und geht folglich schneller vom flüssigen Zustand in den Gaszustand über – es ist »flüchtiger«. Ebenso lässt sich der Alkohol durch osmotische Verfahren entfernen. Dabei filtert man mit speziellen Membranen gezielt verschiedene Stoffe aus dem Gemisch, in dem Fall Ethanol.

Allerdings ist Ethanol bei Weitem nicht die einzige flüchtige Substanz in einem Wein. Wer gerne Wein trinkt, weiß: Ganz entscheidend für den Genuss ist das Bukett, der charakteristische Geruch, der aus dem Glas in die Nase steigt. Für diesen sorgt ein Strauß an flüchtigen Stoffen – Ester, organische Säuren, Terpene, Phenole, Lactone, aber auch höherwertige Alkohole und weitere Moleküle. Sie verursachen blumig-fruchtige Aromen, den Duft nach Vanille, holzige Noten oder den Eindruck roter Beeren. Mehr als 1000 solcher Weinaromastoffe sind heute bekannt, zirka 400 davon bilden sich während der Fermentation.

Doch sowohl bei der Destillation als auch beim Osmoseverfahren verabschiedet sich ein guter Teil dieser aromabestimmenden Komponenten mit dem Alkohol – und das ist einer der tragischen Gründe dafür, warum alkoholfreier Wein für manch einen seelenlos schmeckt. Bei der Destillation steigen die Stoffe aus der Flüssigkeit auf, bei Osmoseverfahren können sie durch die Poren oder in den Membranen verschwinden oder an das Membranmaterial adsorbieren.

Wichtige Aromen verflüchtigen sich

Auf diese Weise kann ein Wein beim Alkoholentzug zwischen 75 und 99 Prozent der für sein Aroma ausschlaggebenden Bestandteile verlieren. Das zeigt eine Übersichtsarbeit über den Forschungsstand zu Entalkoholisierungsverfahren bei Wein aus dem Jahr 2024. Ein internationales Autorenteam etwa entzog einem Chardonnay, einem Pinot Noir Rosé und einem Merlot mit zwei verschiedenen Verfahren den Alkohol und ermittelte anschließend zahlreiche Parameter, unter anderem den Gehalt von 57 flüchtigen Verbindungen. Das Resultat: Bei der Umkehrosmose verloren die Weine zwischen 78 und 92 Prozent der untersuchten Ester und 73 bis 91 Prozent der organischen Säuren. Die Vakuumdestillation schnitt noch schlechter ab: Zwischen 96 und 98 Prozent der Ester sowie 85 bis 91 Prozent der organischen Säuren blieben auf der Strecke.

Wie also wird der Wein auch ohne Drehzahl schmackhaft? Naheliegend ist es, die fehlenden Aromen dem Getränk nach der Entalkoholisierung wieder zuzugeben. Einem Wein einfach »neue« Aromastoffe zuzusetzen, ist in der EU allerdings verboten. Die entzogenen Stoffe zu einem späteren Zeitpunkt wieder in das Getränk hineinzugeben, ist hingegen erlaubt. So ist es möglich, erst die flüchtigen Aromastoffe abzutrennen (und aufzufangen) und danach das Ethanol, und anschließend die begehrten Aromastoffe wieder zum Getränk hinzuzufügen. Das gelingt zum Beispiel mit einem speziellen und teuren Gerät namens Schleuderkegelkolonne – es funktioniert aber ebenso mit der Destillation oder verschiedenen Osmoseverfahren. Und es gibt noch weiteren Grund zur Hoffnung: Von den charakteristischen Geruchsstoffen bleiben mehr von Beginn an im Getränk erhalten, wenn man den Alkoholgehalt schrittweise verringert.

Bestimmte authentische Noten lassen sich aber auch mit traditionellen Verfahren aus der Weinherstellung erzeugen. So hat ein Team des Instituts für Weinbau und Oenologie am Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum Rheinpfalz einen Trick angewandt, der bei herkömmlichem Wein bereits eingesetzt wird. Die Fachleute behandelten einen entalkoholisierten Riesling mit gerösteten Holzchips, um die vanilleartigen Noten nachzuahmen, die im Holzfass gelagerte Weine entwickeln. Das gelang ziemlich gut: Das Getränk schmeckte danach holziger und »vanilliger«, allerdings auch bitterer und saurer. Durch den Kontakt mit den Eichenholzchips werden flüchtige Phenole in die Flüssigkeit übertragen, die sich während des Toastens der Holzdauben bilden. Das gleicht die Verluste der Entalkoholisierung aus.

Außerdem gaben die Forscherinnen und Forscher Süßreserve hinzu. So bezeichnet man den noch unvergorenen Most, dem die Hefen entzogen wurden – er behält demnach seinen Zuckergehalt, weil keine Gärung stattfindet. Im so behandelten entalkoholisierten Wein entfalteten sich mehr blumige Aromen. Das attestierten nicht nur sensorisch geschulte Verkoster, sondern das bestätigte auch die chemische Analyse: Nach Zugabe des süßen Traubensafts stieg der Gehalt an Linalool sowie an Estern wie Ethylhexanoat, Ethylacetat sowie 2-Phenylethylacetat – Moleküle, die für einen blumig-fruchtigen Duft sorgen. Die Wahrnehmung floraler Noten ließ sich sogar noch steigern, wenn man dem Getränk das Enzym ß-Glucosidase hinzufügte. Denn dieses setzt aus Aromastoffvorläufern, die in der Süßreserve vorhanden sind, das fruchtig nach Maiglöckchen duftende Linalool frei. Im entalkoholisierten Wein ist Linalool zwar auch vorhanden, jedoch in so geringen Mengen, dass man es nicht wahrnehmen kann.

Aromakomponenten | Durch Zugabe von Süßreserve stieg in einem untersuchten entalkoholisierten Chardonnay der Anteil an verschiedenen Estern, die blumig-fruchtige Aromen hervorrufen, sowie die Menge an Linalool, das nach Maiglöckchen duftet.

Aber nicht nur im Saft der Trauben, auch in der Schale schlummert ein potenzieller Schatz. Dort finden sich Vorläufer von Aromastoffen – die aromagebenden Moleküle sind dort an Zuckerreste oder Peptide gebunden und daher nicht flüchtig. Sie würden also während des Alkoholentzugs im Wein erhalten bleiben. Die Experten schlagen daher vor, aus der Traubenschale möglichst viele solcher Aromastoffvorläufer zu extrahieren und erst nach der Destillation hydrolytisch oder enzymatisch zu spalten, so dass sich die Aromen im Produkt entfalten. Die enthaltenen Stoffe wären dann typisch für eine bestimmte Traubensorte und der Wein damit besonders authentisch.

Es gibt allerdings einen Wermutstropfen: Die fehlenden Aromastoffe sind nicht das einzige Problem des entalkoholisierten Weins. Ob man einen Tropfen für gut befindet, hängt noch von viel mehr Faktoren ab – von den nicht flüchtigen Geschmacksstoffen, vom Säuregehalt, von der Süße, aber auch von dem, was Weinkenner als Mundgefühl bezeichnen: Dazu gehört, wie stark sich die Mundschleimhäute zusammenziehen, wenn man den Wein kostet (»Adstringenz«), aber auch der wahrgenommene »Körper« oder die »Fülle« des Weins. Und das Molekül Ethanol verändert die sensorische Wahrnehmung dieser ganzen Parameter.

Besonders eindrucksvoll zeigt das ein Experiment: Durch den Entzug des Alkohols steigt normalerweise der pH-Wert, das heißt, der Wein wird weniger sauer. Trotzdem bewerteten Testpersonen einen entalkoholisierten Wein als saurer als sein alkoholisches Pendant – obwohl der alkoholhaltige Tropfen messbar saurer war. Offenbar balanciert Ethanol saure Noten im Getränk aus. Ebenso maskiert Ethanol bittere Geschmacksnoten und kann die Wahrnehmung der Adstringenz verringern. Durch den Alkoholentzug verliert das Getränk außerdem an Viskosität, und Körper und Fülle können abnehmen – wobei diese beiden Eigenschaften auch von der Gesamtbeschaffenheit des Weins abhängen.

Wie stark der Alkoholgehalt die sensorische Wahrnehmung beeinflusst, hat ein Team der Université de Toulouse im Jahr 2022 untersucht. In einem ziemlich aufwändigen Experiment entzog es dazu einem Chardonnay und einem Shiraz zuerst die flüchtigen Aromakomponenten, dann das Ethanol. Anschließend setzte es die Aromastoffe der verbliebenen Flüssigkeit wieder zu und stellte daraus mit Hilfe von reinem Ethanol und destilliertem Wasser Weinproben mit unterschiedlichen Alkoholgehalten her. 42 Probanden verkosteten die Resultate blind und bewerteten sie. Einen Unterschied schmeckten die Testpersonen im Schnitt ab 1,55 Prozent Differenz im Alkoholgehalt beim weißen Chardonnay, ab 1,88 Prozent beim roten Shiraz. Beim Weißwein verziehen die Probanden die Alkoholreduktion außerdem eher. Erst ab zirka 2,8 Prozent Alkoholgehalt und darunter lehnten sie den Wein ab. Beim Shiraz waren sie weniger tolerant, der geringste mögliche Alkoholgehalt, bei dem sie den Wein noch trinken würden, lag bei sieben Prozent.

Ein Wein muss laut EU-Verordnung mindestens 8,5 Volumenprozent Alkohol aufweisen. Produkte, denen der Alkohol nach der Gärung entzogen wurde, müssen entsprechend gekennzeichnet sein. Enthalten sie weniger als 0,5 Prozent Alkohol, gelten sie als alkoholfrei; zwischen 0,5 und 8,5 Prozent heißt die Bezeichnung alkoholreduziert. Es gibt auch Weinersatzprodukte mit 0,0 Prozent Alkohol. Diese werden aber nicht aus Weinen durch Alkoholentzug hergestellt und dürfen daher auch nicht als Wein bezeichnet werden.

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