Lexikon der Psychologie: Schizophrenie
Schizophrenie, Gruppe psychotischer Störungen, die durch massive Störungen des Denkens, der Emotionen und des Verhaltens gekennzeichnet sind. Die Bezeichnung Schizophrenie (“Spaltungsirresein”) geht auf E. Bleuler zurück; E. Kraepelin wählte für die Erkrankung den Begriff Dementia Praecox (“frühzeitige Verblödung”). Beide Bezeichnungen können aber nicht als charakteristische Kennzeichen der schizophrenen Störungen gelten.
1) Symptomatik: Die Schizophrenie ist eine psychotische Störung, eine sehr schwere psychiatrische Erkrankung der Gesamtpersönlichkeit mit unklarer Ätiologie und mit einer Vielfalt von Unterformen. Sie beeinträchtigt die Grundfunktionen, die Gesunden das Gefühl von Individualität, Einzigartigkeit und Entscheidungsfreiheit geben: Sie äußert sich in Störungen der menschlichen Informationsverarbeitung im kognitiven, verbalen, affektiven und perzeptuellen Bereich, durch Realitätsverlust und Störungen der Willkürmotorik (Katatonie). Intellekt und klares Bewußtsein bleiben in der Regel erhalten. Die Wahrnehmung kann dabei durch Halluzinationen (Sinnestäuschungen) meistens akustischer, aber auch optischer oder olfaktorischer Art oder durch wahnhafte Denkinhalte verzerrt sein (produktive Symptome), was sich in schweren Beeintächtigungen des Sozialverhaltens und der Leistung niederschlägt (negative Symptome). Besonders häufig sind die akustischen Halluzinationen, die als dialogisierende und kommentierende Stimmen als sehr quälend empfunden werden: Sie sprechen über den Patienten und sein Verhalten. Patienten berichten zudem oft über eine Derealisation ihrer Welt: Sie sei verändert oder unwirklich. In mannigfaltiger Form tritt Wahn auf: als Verfolgungswahn (sehr häufig), Größen-, Beziehungs-, Abstammungs-, Vergiftungs-, Kontroll- oder Eifersuchtswahn.
Die Diagnose einer Schizophrenie wird nach DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) gestellt bei Anhalten einiger Symptome für mindestens ein halbes Jahr, wenn Leistungsminderung und über mindestens einen Monat mehr als zwei der charakteristischen Symptome vorliegen, wie Wahn, Halluzinationen, desorganisierte Sprechweise, katatones oder desorganisiertes Verhalten oder negative Symptome wie inadäquater Affekt. Diese Definition ähnelt der der ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt 1993). Differentialdiagnostisch müssen andere psychische Störungen (wie Bipolare Störung usw.), organische Krankheiten oder Substanzeinflüsse ausgeschlossen werden. Bei vorhandener Diagnose "Autismus" erfolgt eine komorbide Diagnose "Schizophrenie" nur bei Vorherrschen von Halluzinationen oder Wahn (vgl. American Psychiatric Association, 1994).
Folgende Typen der Schizophrenie werden nach dem DSM-IV und der ICD-10 unterschieden: der durch Minussymptomatik wie flacher bzw. inadäquater Affekt, Verwirrung und Zerfahrenheit charakterisierte desorganisierte Typus (in der ICD 10: Hebephrene Schizophrenie), der durch psychomotorische Störung wie katatoner Stupor oder Erregung oder Negativismus beschreibbare katatone Typus, der durch Wahnsystem, auditorische Halluzinationen und zumeist Verfolgungswahn gekennzeichnete paranoide Typus, der mit rudimentären Schizophreniesymptomen nach Abklingen der akuten Phase charakterisierte residuale Typus (in der ICD 10: Schizophrenes Residuum, letzteres wird als Postschizophrene Depression bezeichnet, bei zusätzlichem Vorliegen einer depressiven Episode, ohne vorhergehende produktive psychotische Symptome wird eine Schizophrenia simplex diagnostiziert) und der verbleibende, in keine der genannten Kategorien passende Undifferenzierte Typus.
2) Epidemiologie, Verlauf und Prognose: Transkulturell konstant erkrankt ca. 1% der Bevölkerung an Schizophrenie. Der Erkrankungsbeginn ist häufig subakut und liegt meist zwischen 15 und 40 Jahren, oft vor dem 30. Lebensjahr und häufig im Jugendalter. Zu je etwa einem Drittel verläuft die Erkrankung entweder mit vollständiger Heilung, oder episodisch mit Wiedererkrankungen oder chronifiziert. Prognostisch spricht für einen günstigen Verlauf eine kurze Dauer der ersten und insgesamt wenige Episoden, prämorbid gute soziale Anpassung sowie eine Positivsymptomatik neben frühem Behandlungsbeginn, stabilem sozialen Umfeld und weiblichem Geschlecht.
3) Ätiologie: Im Sinne einer multifaktoriellen Ätiologie werden unterschiedlichste Aspekte diskutiert:
– biologische Faktoren: Vermutet wird eine genetische Disposition: Bei eineiigen Zwillingen ist die Konkordanzrate merklich erhöht. Sie beträgt ca. 44% und ist damit eindeutig größer als bei zweieiigen Zwillingen (ca.12%).
– biochemische Faktoren: Physiologisch wird eine übermäßige Aktivität des Neurotransmitters Dopamin vermutet, da durch Medikamente, die die biochemische Aktivität unterdrücken, eine Besserung der Symptomatik eintritt. Erkrankungen werden häufig durch Umweltfaktoren ausgelöst. Es findet sich eine erhöhte Konzentration des Transmitters Dopamin an zentralen Synapsen bzw. eine erhöhte Sensitivität der jeweiligen Rezeptoren; anatomische Auffälligkeiten der Gehirnstruktur.
– psychologische Aspekte wie Entwicklungs- und Kompetenzdefizite, Kommunikationsstörungen, hohe Vulnerabilität und Traumata. Die double-bind-Hypothese läßt sich zwar nicht bestätigen, aber in Familien schizophren Erkrankter finden sich häufiger ausgeprägte Konflikte und negative Emotionen. Familien mit “high expressed emotions” führen zu häufigeren Rückfällen als Familien mit “low expressed emotions”.
– soziale Faktoren wie belastende Arbeits- oder Aufwuchsbedingungen. Bei einer großen Anzahl von Patienten lassen sich im Vorfeld kritische Lebensereignisse feststellen (Comer, 1995).
4) Therapie: Als integraler Bestandteil der Behandlung gilt die antipsychotische Medikation mit symptomlindernden Neuroleptika, welche den Weg für psychotherapeutische und Rehabilitationsmaßnahmen eröffnen sollen. Die medikamentöse Therapie kann als der wichtigste Fortschritt in der Behandlung schizophrener Erkrankungen bezeichnet werden (Psychopharmaka, Pharmakopsychologie, Psychopharmakologie). Um die Negativsymptome zu beeinflussen, sind zudem verhaltens- und soziotherapeutische Verfahren angezeigt (Verhaltenstherapie, Soziotherapie, soziale Kompetenz-Training). Auch psychoanalytische Therapieformen werden eingesetzt, obwohl ihre Wirksamkeit umstritten ist.
Mi.Bo./M.E.
Literatur
American Psychiatric Association (1994). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (4th ed.). Washington, DC: American Psychiatric Association.
Comer, R. J. (1995). Klinische Psychologie. Heidelberg: Spektrum.
Davison, G. C. & Neale, J. M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (1993). Klassifikation psychischer Krankheiten. Klinisch-diagnostische Leitlinien nach Kapitel V (F) der ICD-10 (2. Aufl.). Bern: Huber.
Fiedler, P. (1997). Persönlichkeitsstörungen (3. akt. Aufl.). Weinheim: Psychologie Verlags Union.
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