Lexikon der Psychologie: Soziologie
Soziologie, gebildet aus “socius” (lat. = Gefährte) und logos (griech. = Wort, Wahrheit: i. w. Sinne Gesellschaftslehre), untersucht das, was die Welt im innersten zusammenhält – und was sie antreibt. Wenn kurz so definiert wird, was Soziologie ist und will, dann kann man sie als eine alte Wissenschaft bezeichnen, weil das “gute” und angemessene Zusammenleben schon seit den Griechen (und schon vor diesen) Gegenstand von Überlegungen war. Ihre eigentliche Konjunktur und ihre Taufe erfuhr sie jedoch erst im 19. Jh., als mit der Expansion der Industrialisierung und der damit einhergehenden Entwurzelung – aber auch Befreiung – vieler Menschen aus herkömmlichen Lebensbedingungen die sozialen Verhältnisse immer prekärer wurden. In dieser Zeit prägte auch der französische Sozialphilosoph Auguste Comte (1798 – 1857) den Begriff Soziologie, die als exakte Wissenschaft die Gesetze der menschlichen Gesellschaft erforsche. Die Orientierung an den damals schon so erfolgreichen Naturwissenschaften ist deutlich. Um von deren Prestige etwas auf seine Disziplin zu leiten, hätte Comte gerne den Begriff “soziale Physik” verwendet, der zu seinem Verdruß aber schon von seinem Konkurrenten, dem belgischen Statistiker Adolphe Quetelet (1796-1874), belegt worden war.
Bis heute hat sich die Soziologie nicht darüber einigen können, ob sie die naturwissenschaftlichen Methoden übernehmen oder einer eigenen sozialwissenschaftlichen folgen solle, nämlich der des nachvollziehenden Verstehens (W. Dilthey, 1833-1911). In der auch heute noch aktuellen Definition der Soziologie von Max Weber (1864-1920) ist beides gefordert, eine geisteswissenschaftliche und eine naturwissenschaftliche Verfahrensweise: “Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will” (1972: 5). Verstehen versus Erklären ist eine der Dichotomien, nach denen man Ordnung in die Vielfalt soziologischer Paradigmen bringen kann. Eine andere ist die, ob man eine individualistische oder eine holistische Grundentscheidung zu treffen habe. Hier geht es um die Frage, ob über individuelles Verhalten soziale Sachverhalte zu erklären (verstehen) seien oder nur “Soziales durch Soziales zu erklären” sei, wie René König (1906–1992) den französischen Soziologen Emile Durkheim (1858–1917) treffend zusammenfaßt. Die Frage, wie die “menschliche Gesellschaft” zu erforschen, zu deuten und ursächlich zu erklären sei, ist in der Soziologie also umstritten und hat zu einer Fülle von Strategien (theoretischen Modellen) geführt: Kritische Theorie (M. Horkheimer, Th. W. Adorno), strukturell funktionale Theorie (T. Parsons), Konflikttheorie (R. Dahrendorf), marxistische Theorie, Austauschtheorie, Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie usw. Diese Vielfalt von Vorgehensweisen ist nicht notwendig ein Nachteil. Sie haben ihre je spezifische Erklärungskraft und ihre in der Axiomatik begründeten blinden Stellen. Aus dem Wettstreit ergibt sich auch ein wechselseitig wirksames kritisches Potential. Versuche, die verschiedenen Grundparadigmata (Verstehen versus Erklären, Individualismus versus Holismus) zu integrieren – durchaus im Sinne Max Webers –, sind zu beobachten (Esser 1993).
In der Geschichte der Soziologie läßt sich eine wechselnde Dominanz der Fragestellungen beobachten. Dominierten im 19. Jh. noch Evolutionstheorien, die eine Entwicklung zu einer besseren Gesellschaft (Auguste Comte, Karl Marx, Herbert Spencer) postulierten, wechselte spätestens mit der Jahrhundertwende die Perspektive, nämlich hin zu einer Querschnittsbetrachtung. Wiederum spielt die Orientierung an den Naturwissenschaften eine bedeutsame Rolle. Schon Spencer (1820-1903) begann, Gesellschaften als Organismen zu betrachten und leitete zu einer Systemtheorie über, die ihren ersten Höhepunkt bei Talcott Parsons (1902-1979) und ihren zweiten bei Niklas Luhmann (1927-1998) hatte. Die Praxisrelevanz der Soziologie für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ist nicht zu übersehen. Sie bestimmte einerseits die Tagesdiskussion – Beispiel: Bildung ist Bürgerrecht, Dahrendorf (* 1929) –, andererseits ist nicht zu leugnen, daß die Soziologie ein breites Spektrum von Ergebnissen vorzuweisen hat, das von nicht immer sofort umsetzbaren Denkanstößen bis zu ganz konkreten für die Tagespolitik wichtigen Erkenntnissen reicht. So kann man davon ausgehen, daß zahlreiche mittlerweile klassisch zu nennende Studien, z. B. der Wirtschafts- und der Schichtungssoziologie, zwar keine unmittelbare Anwendung gefunden haben, jedoch bewußtseinsprägend und – auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen und des Bildungs- und Ausbildungswesens – soziale Wirklichkeit verändernd gewirkt haben. Darüber hinaus zeigte und zeigt die Soziologie ihre Effektivität – neben ihrer klassischen Funktion der Kritik best)hender Verhältnisse – auch in der Analyse ganz konkreter Probleme; in der Nachkriegszeit – Beispiele: Arbeitslosigkeit, Familien-, Wohnungs- und Jugendprobleme, z. B. durch Helmut Schelsky (1912–1984) – ebenso wie heute (Indikatorenforschung, Statuszuweisungsprozesse, Diskriminierung von Minoritäten). Erleichtert wird dies durch die Weiterentwicklung der Methoden der empirischen Sozialforschung (Forschungsmethoden), durch eine Rückbesinnung auf qualitative Verfahren, die neue Praxisbereiche erschließen, wie auch durch den Ausbau traditioneller Verfahren, z. B. durch die zyklische Durchführung der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS, Porst, 2000), die bei Einsatz geeigneter Analyseverfahren die Messung sozialen Wandels und damit die kontrollierte Steuerung sozialer Praxis erleichtert.
H.Sa.
Literatur
Esser, H. (1993). Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/New York: Campus.
Friedrichs, J., Lepsius, M. R. & Mayer, K. U. (Hrsg.) (1998). Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Opladen: WV.
Porst, R. (2000). Praxis der Umfrageforschung. Stuttgart/Leipzig/Wiesbaden: Teubner.
Weber, M. (1972) Wirtschaft und Gesellschaft (5. Auflage). Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
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