Lexikon der Psychologie: Suggestibilität
Suggestibilität, auch: passive Suggestion, die Bereitschaft oder Empfänglichkeit, suggestiv übermittelte Informationen über bestimmte Sachverhalte in die eigenen kognitiven Systeme (Wahrnehmen, Denken, Erinnern usw.) zu integrieren und ggf. als Selbsterlebtes und als eigene Erfahrungen mitzuteilen. Suggestibilität wird hauptsächlich durch psychosoziale und situative Merkmale der Person (z.B. Beziehung zum Suggestor, psychische Befindlichkeit) zum gegebenen Zeitpunkt bestimmt. Ihr gegenüber steht die sogenannte aktive Suggestion, das sind jene Reize, die auf die Person einwirken und geeignet sind, suggestiven Einfluß auszuüben (suggestive Fragetechniken).
Der suggestive Einfluß auf die kognitiven Funktionen einer Person resultiert aus dem Zusammenspiel zwischen der Suggestion und der Suggestibilität der Person. Bei den relevanten antezedenten Variablen spielen stabile Persönlichkeitseigenschaften kaum eine Rolle. Zwar ist die Suggestibilität wenig gehemmter Kinder mit stabiler Selbstachtung geringer als jene gehemmter Kinder mit unsicherer Selbstachtung, jedoch hat die empirische Forschung im übrigen nur wenige eindeutige Ergebnisse erbracht. Maßgeblich für die Suggestibilität sind vielmehr situativ bedingte persönliche Variablen, z. B. spielen Wissen, Motivation, Erwartung und Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle. Ferner variiert die Suggestibilität hauptsächlich mit der Qualität und dem Ausmaß der Anwendung suggestiver Kommunikationstechniken (suggestive Fragetechniken).
Die wissenschaftliche Diskussion über “Suggestibilität” hat sich in den letzten Jahren einerseits auf die Frage sogenannter verdrängter Erinnerungen an tatsächliche oder vermeintliche traumatische Erfahrungen der Kindheit konzentriert und andererseits auf die Frage der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, besonders wenn es sich um Aussagen von Kindern über sexuelle Mißbrauchserfahrungen handelt (Höfer et al., 1997, Sporer & Bursch, 1997). Bezüglich verdrängter Erinnerungen von Erwachsenen, die im Rahmen einer Therapie wieder auftauchen, bietet die Forschungslage keineswegs ein einheitliches Bild, jedoch steht fest, daß die therapeutische Situation gleich mehrere Aspekte aufweist, durch die ihr suggestives Potential erheblich anwachsen kann. Dies hatte bereits Freud erkannt und ihn u. a. bewogen, seine “Verführungstheorie” aufzugeben zugunsten der Annahme, daß die Berichte seiner Patienten über mutmaßliche sexuelle Mißbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit nicht notwendigerweise auf Tatsachen beruhen müssen.
Suggestives Potential in der Therapiesituation besteht erstens darin, daß der Therapeut aufgrund seines professionellen Status beim Klienten eine hohe Glaubwürdigkeit hat, zweitens die Klienten erhöht suggestibel sind, weil sie sich in der Regel an die mutmaßlichen Ereignisse der Kindheit gar nicht oder nur schwach erinnern. Drittens ist davon auszugehen, daß der Klient aufgrund seiner psychischen Störungen sich in einer psychosozialen Ausnahmesituation mit Anzeichen hoher Destabilisierung befindet, was ebenfalls die Suggestibilität erhöhen kann, und schließlich bietet die Hypothese z. B. eines sexuellen Mißbrauchs in der Kindheit dem Klienten und dem Therapeuten die verlockende Möglichkeit, eine umfassende Erklärung für alle Leiden in der gegenwärtigen Lebenssituation des Klienten zu finden.Es ist nicht wesentlich, wie hoch der Prozentsatz derjenigen ist, die aufgrund dieser suggestiven Einflüsse sich an etwas erinnern, was sich nicht ereignet hat, sondern entscheidend ist, daß es grundsätzlich möglich ist, die Erinnerung an ein nicht stattgefundenes Ereignis zu induzieren.
In bezug auf Zweifel an der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage wegen suggestiver Beeinflussung ist zu berücksichtigen, daß vorschulpflichtige Kinder disproportional in höherem Maße suggestibel sind als Schulkinder oder Erwachsene (Ceci & Bruck, 1993). Das hängt vor allem mit der suggestiven Wirkung der Erwachsenenautorität auf Kinder zusammen, die dazu führt, daß auch, wenn keine besonderen suggestiven Fragen oder Untersuchungstechniken angewendet werden, Kinder eine Bereitschaft entwickeln, tatsächliche oder vermeintliche Erwartungen der befragenden Erwachsenen durch ein entsprechendes Aussageverhalten zu erfüllen.
Seit immer häufiger zu beobachten ist, daß mit Kindern bei Verdacht auf sexuellen Mißbrauch sogenannte Aufdeckungsgespräche (Aufdeckungsarbeit) durchgeführt werden, die in der Regel durch Anwendung hoch suggestiver Befragungstechniken bestimmt sind, haben Risiko und Wahrscheinlichkeit der vollständigen oder partiellen Verzerrung und Verfälschung der Erinnerung der Kinder bis zur Vernichtung des Beweismittels “Aussage” beträchtlich zugenommen. Fazit: Auch jüngere (vorschulpflichtige) Kinder können sehr verläßliche Zeugen sein , wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ohne Intervention im weitesten Sinne durch einen Erwachsenen über ihre Erlebnisse zu berichten.
B.Scha.
Literatur
Höfer, E., Langen, M., Dannenberg, U. & Köhnken, G. (1997). Empirische Ergebnisse und theoretische Überlegungen zu verdrängten Erinnerungen oder wie und warum sind Menschen für Suggestionen empfänglich? In L. Greuel et al. (Hrsg.), Psychologie der Zeugenaussage. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Sporer, S.L. & Bursch, S.E. (1997). Kinder vor Gericht: Soziale und kognitive Voraussetzungen der Aussagen von Kindern. Psychologische Rundschau, 48, (S. 141-162).
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.