Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen: Zellkulturen pflanzlicher Herkunft zur Gewinnung Biogener Arzneistoffe
Zellkulturen pflanzlicher Herkunft zur Gewinnung Biogener Arzneistoffe
Beate Diettrich
Neben vielen Arzneistoffen, die durch chemische Synthese produziert werden, spielen Naturstoffe aus Pflanzen als Biogene Arzneistoffe noch immer eine bedeutende Rolle. Die meisten dieser Verbindungen sind chemisch so kompliziert gebaut, daß die chemische Synthese unrentabel ist und sie aus wild vorkommenden oder angebauten Arzneipflanzen isoliert werden.
Pflanzliche Zellen sind jedoch auch außerhalb der intakten Pflanze unter geeigneten Bedingungen in vitro kultivierbar. Sie können als sog. Zellkulturen, ausgehend von den meisten pflanzlichen Organen, angelegt werden. Zum Wachstum benötigen sie geeignete C- und N-Quellen, z.B. Zucker, Nitrat- und Ammoniumsalze, Phosphationen sowie eine Reihe von Spurenelementen. Wichtig sind darüber hinaus Wachstumsfaktoren vom Auxintyp, z.B. Naphthylessigsäure, und vom Cytokinintyp, z.B. Benzyladenin. Durch Wuchsstoffe mit starker Auxinaktivität – geeignet hierfür ist z.B. die auch als Herbizid eingesetzte 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D) – kann die Despezialisierung, d.h. die Überführung bereits differenzierter, also in der Pflanze unter gewöhnlichen Bedingungen nicht mehr teilungsfähiger Zellen in den teilungsfähigen Zustand eingeleitet werden. Es entstehen Kolonien meist parenchymähnlicher Zellen, der sogenannte Kallus. Durch Kultivation in flüssigen Nährmedien (submerse Kultivation) unter Schütteln können sog. Suspensionskulturen hergestellt werden. Durch das Schütteln wird der für das Überleben der Zellen nötige Sauerstoffeintrag in das Nährmedium gewährleistet und es kommt durch die mechanische Bewegung zur Ablösung einzelner Zellen und Zellkolonien. Diese können im Nährmedium suspendiert weiterwachsen. Auf diese Weise sind pflanzliche Zellen ähnlich mikrobiologischen Systemen biotechnologisch handhabbar und können z.B. in Fermentoren kultiviert werden. Mitte der 80er Jahre versprach man sich viel von der Produktion von Sekundärstoffen mit Hilfe von Zellkulturen diverser Pflanzen. Als Ausgangspflanzen zur Anlage der Kulturen kamen vor allem Pflanzen in Frage, welche ökonomisch interessante Stoffe bilden. Dies gilt z.B. für Arzneipflanzen. Für die Rentabilität ihrer Produktion mit biotechnologischen Methoden gilt dabei der Erlös von ca. 100 Dollar pro Kilogramm Substanz auf dem Weltmarkt als "magische Zahl".
Zellkulturen hätten, Rentabilität vorausgesetzt, bei der Produktion Biogener Arzneistoffe gegenüber den konventionellen Methoden der Gewinnung aus Pflanzen verschiedene Vorteile [11]:
· Unabhängigkeit von nicht oder nur sehr schwer beherrschbaren Umweltfaktoren wie Witterung, Insektenbefall und Pflanzenkrankheiten;
· Gewinnung von Arzneistoffen aus Pflanzen, die besondere Klimaansprüche stellen, z.B. tropische Pflanzen, an jeder Stelle der Erde;
· umweltfreundlichere Produktion, da der Einsatz von Herbiziden und Pestiziden ausgeschlossen wäre;
· Stimulation der Bildung der Arzneistoffe durch exogene Faktoren (z. B. Zugabe von Endprodukt-Vorstufen, Wachstumsregulatoren, Stressoren) und durch endogene Veränderungen der Zelle (z. B. Mutationen, Transformationen);
· Herstellung von Nährmedien aus billigen Rohstoffen und Abfallstoffen, wie Abfälle der Zuckerindustrie, Algenhydrolysate u.a.m.;
· automatisierbare und damit ökonomischere Produktion;
· Unabhängigkeit von politisch-wirtschaftlichen Unsicherheiten.
Die für die Ausgangspflanze typischen Sekundärstoffe werden jedoch durch unspezialisierte, in vitro kultivierte pflanzliche Zellen häufig nicht gebildet. Ursache dafür ist, daß es sich um Produkte handelt, die im sog. "Sekundärstoffwechsel" gebildet werden.
Alle Lebewesen besitzen einen weitgehend einheitlichen Bereich des Stoffwechsels, den Primärstoffwechsel. Hierzu gehören die Synthese und der Abbau von Nucleotiden und Nucleinsäuren, Aminosäuren und Proteinen sowie der Kohlenhydratstoffwechsel. Die hierbei ablaufenden Reaktionen sind für das Leben der Organismen essentiell. Die vorhandene Einheitlichkeit im Primärstoffwechsel ist die Grundlage für die Übertragbarkeit vieler biochemischer Befunde zwischen verschiedenen Gruppen von Organismen.
Daneben gibt es spezielle Stoffwechselwege, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind und von Spezies zu Spezies variieren. Diese werden unter dem Begriff "Sekundärstoffwechsel" zusammengefaßt. Die chemische Struktur der im Sekundärstoffwechsel gebildeten Naturstoffe umfaßt eine riesige Vielfalt verschiedener Verbindungstypen. Die meisten Sekundärstoffe haben keine spezifische stoffwechselphysiologische Funktion. Sie besitzen jedoch häufig ökologische Funktionen und verschaffen dem produzierenden Organismus einen Überlebensvorteil. So sind in tierischen Organismen viele sekundäre Naturstoffe physiologisch stark wirksam und bewirken einen Schutz für den Produzenten. In therapeutischen Konzentrationen wird eine Reihe dieser Wirkstoffe als Medikamente verwendet. Andere dienen als Leitsubstanzen für die Entwicklung von Arzneistoffen mit verbesserten therapeutischen Eigenschaften. Der Sekundärstoffwechsel ist ein eigenständiger Bereich des Gesamtstoffwechsels. Er verfügt über ein eigenständiges Enzymmuster und eigenständiges genetisches Material. Dieses ist im Verlauf der Evolution wahrscheinlich durch Genduplikation und anschließende Neufunktionalisierung aus dem Grundstoffwechsel entstanden. Hinweise in dieser Richtung ergeben sich z.B. aus dem Vergleich von Nucleinsäuren und Enzymen des Sekundärstoffwechsels mit den entsprechenden Verbindungen des Primärstoffwechsels.
Sekundärstoffe sind häufig nicht Endprodukt einer Reaktionsfolge, sondern unterliegen einem Turnover. Sie werden aus Verbindungen, die im Primärstoffwechsel synthetisiert werden, aufgebaut (z.B. aus Aminosäuren) und beim Abbau in Verbindungen zerlegt, die im Primärstoffwechsel wieder verwendet werden können. Ihre Bildung und ihre Akkumulation sind fein reguliert und in vielen Fällen entwicklungsabhängig. Daraus ergibt sich, daß die Biosynthese der meisten Sekundärstoffe in Spezialisierungsprogramme eingebunden ist, die in unspezialisierten Zellen nicht ausgelöst werden.
Die für die Sekundärstoffbildung notwendigen Spezialisierungsprogramme umfassen häufig neben chemischen auch morphologische Teile. Gelingt es, in der Zellkultur ein morphologisches Spezialisierungsprogramm auszulösen, welches zur Bildung von Organen führt, in denen in vivo in der Ausgangspflanze die gewünschten Stoffe gebildet werden, so erfolgt in den meisten Fällen auch in vitro die Stoffbildung. So kann durch eine hohe Auxinaktivität im Nährmedium bei vielen Zellstämmen eine Wurzelbildung ausgelöst werden. Die so gebildeten Wurzeln können in vitro sowohl in Schüttelkolben als auch in kleineren oder großen Fermentoren kultiviert werden [3]. Auf diese Weise kann z.B. die Produktion von Alkaloiden, die in der Ganzpflanze in der Wurzel synthetisiert werden, in vitro durch die Anlage von Wurzeln ausgelöst werden. Alternativ ist eine Wurzelbildung durch Transformation mit geeigneten Agrobakterienstämmen möglich (s.u.).
Bei höherer Cytokininkonzentration werden bei geeigneten Stämmen Sprosse oder somatische Embryonen gebildet. Aus beiden können Pflanzen regeneriert werden. Dies beweist, daß die Zellen, die als Ausgangsmaterial für die In-vitro-Kulturen dienten, die gesamte für die Ausbildung der Pflanze notwendige, genetische Information enthalten (Totipotenz dieser Zellen). Digitalisglykoside, die in der Ganzpflanze in allen grünen Organen und Geweben synthetisiert werden, werden in vitro auch in somatischen Embryonen gebildet, sobald diese im Licht ergrünen. Allerdings entspricht das Spektrum der gebildeten Cardenolide dem der aus zygotischen Embryonen entstandenen Keimlingspflanzen und nicht dem der erwachsenen Rosettenpflanze, aus der die therapeutisch verwendeten Herzglykoside gewonnen werden. Während für Keimlingspflanzen Verbindungen wie Odorobiosid G und Glucodigifucosid [2] typisch sind, ist der Hauptinhaltsstoff der adulten Pflanze im ersten Vegetationsjahr Lanatosid C. Dieses wird weder in den In-vitro-Kulturen somatischer Embryonen noch in den Keimlingspflanzen gebildet.
Für somatische Embryonen taxonomisch sehr verschiedener Pflanzen ist eine Sekundärstoffproduktion beschrieben worden [1]. Leider ist die Zahl der Pflanzenarten begrenzt, bei denen in vitro die Bildung somatischer Embryonen ausgelöst werden kann, und häufig stimmt das Spektrum der gebildeten Verbindungen nicht völlig mit dem der Ausgangspflanze, aus der die Zellkultur angelegt wurde, überein. Hieraus wird die Abhängigkeit der Sekundärstoffproduktion vom Differenzierungsstatus der Zellkulturen deutlich.
Darüber hinaus werden weitere Faktoren diskutiert, die für ein Fehlen oder eine mangelhafte Produktion von Sekundärstoffen verantwortlich sind [11]:
· Die Präkursoren stehen für die Biogenese der Sekundärstoffe am Reaktionsort nicht in ausreichender Menge zur Verfügung.
· Die für die Biosynthese der Sekundärstoffe verantwortlichen Enzyme werden nicht in ausreichendem Maße gebildet.
· Die Reaktionsbedingungen (pH, Ionenmilieu, Cofaktorenkonzentration, Aktivatoren, Hemmstoffe) lassen das wirksam werden der für die Sekundärstoffbildung notwendigen Enzyme nicht zu.
· Der gebildete Sekundärstoff kann nicht akkumuliert werden.
In einigen Fällen werden Sekundärstoffe in vitro auch in Kulturen gebildet, die aus parenchymähnlichen, unspezialisierten Zellen bestehen. In diesen Fällen ist die Biosynthese dieser Stoffe also nicht mit einem Spezialisierungsprogramm verknüpft. Einerseits ist dies offensichtlich eine Eigenschaft, die in der Ausgangspflanze bereits vorgebildet sein kann, andererseits kann es sich hierbei um eine Mutation handeln, die erst in vitro entstanden ist. Die Anreicherung von Mutanten in Zellkulturen erfolgt relativ schnell (sogenannte "somaklonale Variabilität" [1]). Zellkulturen bestehen daher gewöhnlich aus einer größeren Anzahl einzelner, auch biochemisch unterschiedlicher Zellinien. Durch verschiedene Techniken können produzierende Zellinien selektiert werden:
Zellaggregatklonierung. Kalluskulturen werden in kleine Stücke zerlegt und aus diesen Stücken anschließend erneut Kallus herangezüchtet. Dies wird mehrmals wiederholt, bis die einzelnen Kallusstückchen aus jeweils nur einer Zellinie bestehen. Hierdurch konnten z. B. Zellstämme isoliert werden, die größere Mengen Shikonin bilden. Kleine Zellkolonien von Suspensionskulturen, von denen angenommen werden kann, daß sie aus nur einer Zellinie bestehen, können gleichfalls vereinzelt und emers (auf der Oberfläche von Nährmedien) oder im Inneren verfestigter Medien zu Kalli herangezüchtet werden.
Regeneration von Zellkolonien aus Protoplasten [1]. In pflanzlichen Geweben sind die einzelnen Zellen durch eine Zellwand, die aus Zellulose und Pektinen besteht, miteinander verbunden. Durch Abbau der Zellwand mittels kommerziell erhältlicher Zellulasen und Pektinasen entstehen Protoplasten, die einzelnen Zellen ohne Zellwand entsprechen. Zur Regeneration von Zellkolonien werden die Protoplasten in viskosen Lösungen suspendiert, die ein Zusammenlagern verhindern. Durch Regeneration der Zellwand entstehen aus ihnen einzeln liegende Zellen, aus denen definierte Zellinien regeneriert werden können. Durch diese Methoden ist es gelungen, Zellinien mit charakteristischen Eigenschaften zu isolieren. Beispiel hierfür sind Zellinien mit einer hohen Aktivität zur 12β-Hydroxylierung von Digitoxin [5] oder zur Produktion von Shikonin.
Die Einführung von fremdem genetischen Material in pflanzliche Zellen
Durch Fremdgene können sowohl Wachstum und Regeneration in pflanzlichen Zell- und Organkulturen als auch die Bildung sekundärer Naturstoffe verändert werden. Zur Einführung von fremdem genetischen Material wurden die folgenden Methoden entwickelt:
Protoplastenfusion. Durch Fusion der Protoplasten unterschiedlicher Zellinien ist die Vereinigung verschiedener Genome möglich. In vielen Fällen sind durch Protoplastenfusion erhaltene Hybride jedoch nicht stabil, sondern es können Teile eines Genoms oder das ganze Genom eines Elternteils bei der Subkultivation verlorengehen. Das Verfahren wird deshalb nur selten angewendet.
Transformation. Durch Transformation werden einzelne Gene oder Gengruppen anderer Organismen in das genetische Material von Pflanzenzellen überführt. Eine geeignete Methode hierfür ist z.B. die Agrobakterium-vermittelte Transformation. Bei der Transformation mittels Agrobakterium tumefaciens können zusammen mit im Agrobakterium-Genom enthaltenen Genen für die Produktion von Auxinen und Cytokininen mit molekularbiologischen Methoden eingefügte Fremdgene stabil in das Genom der infizierten Pflanzenzelle integriert werden. Durch die Expression der Gene, die für eine Auxin- und Cytokininbildung verantwortlich sind, und die Synthese der entsprechenden Phytohormone kommt es zu Zellwucherungen und zur Bildung sogenannter Crown-Gall-Tumore. Diese können wie Kalluskulturen gehandhabt werden, und wie oben beschrieben können Suspensionskulturen daraus angelegt werden.
Bei der Infektion mit Wildstämmen von Agrobakterium rhizogenes wird nur die genetische Information zur Bildung von Auxin übertragen, und es bilden sich sogenannte "Hairy Roots". Hairy Roots lassen sich einfacher in vitro kultivieren als normale Wurzeln. Sie enthalten gewöhnlich jedoch die gleichen Inhaltsstoffe wie diese. In-vitro-Kulturen von Hairy Roots bilden z.B. Shikonin [10], die Produktion von Ginsenosiden oder Atropin wurde beschrieben [1].
Elicitierung durch biotische und abiotische Stressoren
Elicitoren stellen Signale dar, die eine Abwehrreaktion der pflanzlichen Zelle induzieren. Viele Sekundärstoffe besitzen eine ökologische Funktion und verschaffen dem produzierenden Organismus einen Überlebensvorteil. Sie bewirken einen Schutz für den Produzenten. Wegen ihrer physiologischen Wirkung spielen sie zum Teil eine Rolle als Arzneistoffe. Ihre Produktion kann in Zellkulturen durch biotische und abiotische Faktoren ausgelöst werden. So wurde die Induktion von Benzophenanthridin-Alkaloiden durch Sporen von Penicillium cyclopium [9], Coumarinen durch CuCl2, oder Taxoiden durch Methyljasmonat von der Arbeitsgruppe Zenk beschrieben. In keinem Fall war die Produktionsrate jedoch ausreichend, um eine industrielle Produktion ökonomisch zu machen.
Der Einsatz von Zell-, Gewebe- und Organkulturen für die Sekundärstoffproduktion
In der Literatur sind eine größere Zahl von Zell-, Gewebe- und Organkulturen beschrieben, welche zur Bildung von Arzneistoffen in der Lage sind. Trotzdem ist es bisher nicht in größerem Umfang gelungen, wichtige Arzneistoffe durch solche Kulturen wirtschaftlich zu gewinnen. Ursache hierfür sind in erster Linie die geringen Ausbeuten an den gewünschten Stoffen und die relativ hohen Kosten für die In-vitro-Produktion. Ein positives Beispiel ist jedoch die Produktion von Shikonin durch Zellkulturen der Pflanze Lithospermum erythrorhizon in Japan. Das Vorkommen der Stammpflanze L. erythrorhizon in Japan ist beschränkt, sie erwies sich als nicht kultivierbar. Shikonin besitzt eine bakterizide Wirkung, wodurch Sterilitätsprobleme bei der biotechnologischen Produktion in Fermentoren minimiert werden. Darüber hinaus trug zur Akzeptanz des Verfahrens bei, daß Shikonin der Stoff ist, der dem roten Kreis der Nationalflagge Japans seine Farbe gibt und dessen Gebrauch (ähnlich dem Purpur bei den Römern) wegen der Restriktionen seiner Gewinnung dem Kaiserhaus vorbehalten blieb. Er besitzt dadurch bei der japanischen Bevölkerung einen hohen ideellen Wert. Durch die Möglichkeit der biotechnologischen Gewinnung wurde der Farbstoff allgemein zugänglich und wird heute zur Herstellung kosmetischer Präparate (Seifen, Cremes, Salben, Lippenstifte etc.) verwendet. Der Bedarf wird heute im wesentlichen durch Fermentation gedeckt, wobei Hochleistungsstämme von L. erythrorhizon zum Einsatz kommen, die in Großfermentoren kultiviert werden.
Die meisten Sekundärstoff-produzierenden Kulturen dienen in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken, z.B. der Untersuchung von Biosynthesewegen [4, 6] oder der Isolation von Enzymen [8] sowie der zugehörigen Nucleinsäuren. Auch zunächst erfolgversprechende Methoden zum Einsatz von Zellkulturen zur Biotransformation, wie die 12β-Hydroxylierung von Digitoxinderivaten, die in der Therapie von Herzerkrankungen weniger gebräuchlich sind, in die bevorzugten Digoxinderivate, haben sich als nicht ökonomisch genug erwiesen [7].
Der Einsatz der Zellkulturtechnik bei der Züchtung von Arzneipflanzen
In der Pflanzenzüchtung haben Zell-, Gewebe- und Organkulturen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zwei Zielrichtungen spielen beim Einsatz von Zell-, Gewebe- und Organkulturen bei der Arzneipflanzenforschung eine Rolle: (a) die identische Vermehrung wertvoller Genotypen durch In-vitro-Verklonung und (b) die Schaffung neuer Genotypen durch Gentransfer. In die Praxis der Arzneipflanzenzüchtung wurde bisher allerdings nur die Verklonung eingeführt.
Die In-vitro-Verklonung bietet einige Vorteile:
· Einmal ausgelesene, den Sorteneigenschaften entsprechende Pflanzen können über viele Jahre am Leben erhalten werden. Dies erspart die jährliche Neuselektion.
· Es lassen sich größere Zahlen an identischen Pflanzen heranziehen. Die Zahl der zur Saatguterzeugung notwendigen Pflanzen kann in einfacher Weise an den Bedarf angepaßt werden.
· Vorhandene Viren werden aus dem Pflanzenmaterial entfernt.
Das Verfahren beruht auf folgenden Schritten:
Anlage von Sproßkulturen. Ausgangsmaterial für die Sproßkulturen sind Pflanzen, die den Sorteneigenschaften entsprechen. Sproßknospen werden aus den Achseln von Laubblättern herausgeschnitten und chemisch sterilisiert. Die Apikalmeristeme mit den nächstliegenden Blattmeristemen werden unter dem Stereomikroskop abgetrennt. Die Explantate müssen frei von Gefäßen sein, da in diesen Bakterien und Viren vorhanden sein können, die z.B. in Digitalis lanata systemisch verbreitet sind. Die Explantate werden auf einem Nährmedium kultiviert, das neben den üblichen Kohlenstoff- und Stickstoffquellen, Nährsalze und Benzyladenin als Wuchsstoff enthält. Bei niedriger Benzyladeninkonzentration entwickeln sich Sprosse.
Vermehrung der Sprosse. Bei höherer Konzentration an Benzyladenin im Medium wird die Dominanz des Apikalmeristems der in vitro kultivierten Sprosse überwunden, und es treiben die blattachselständigen Seitenmeristeme aus. Es entwickeln sich Tochtersprosse, die vereinzelt und weiter vermehrt werden können.
Bewurzelung der Sprosse. Durch Zusatz von Auxinen, z.B. Naphthylessigsäure, wird an der Sproßbasis die Bildung von Wurzeln ausgelöst. Als am besten geeignet erwies sich ein sogenanntes Bewurzelungsbad mit relativ hoher Auxinkonzentration, in das die Sprosse kurze Zeit eingetaucht werden. Das eigentliche Wurzelwachstum erfolgt danach in Abwesenheit von Auxinen, da diese das Wurzelwachstum hemmen. Gutes Wurzelwachstum erfolgt in Hydrokultur mit mineralischem Substrat (Perlit®).
Adaptieren an Gewächshaus- und Freilandbedingungen. Die in vitro herangezogenen Pflanzen besitzen physiologisch inaktive Stomata, die sich bei Verringerung des Turgors nicht schließen. Sie müssen deshalb langsam an die verringerte Luftfeuchtigkeit im Gewächshaus adaptiert werden. Dabei normalisiert sich die Funktion der Stomata, die Dicke der Cuticula nimmt zu und der Verlust an Wasser durch Transpiration geht dabei auf normale Werte zurück.
Aus Hochleistungspflanzen angelegte Klone können hinsichtlich ihrer Kombinationseignung geprüft und die Nachkommen geeigneter Eltern für die Bereitstellung von Pflanzenmaterial für die Arzneistoffproduktion bereitgestellt werden. Dies ist bis heute das Verfahren, bei dem die Zellkulturtechnik eine verbesserte Rentabilität der Gewinnung von Arzneistoffen ermöglicht hat.
Literatur
[1] Bajaj, Y.P.S.: in: Biotechnology in Agriculture and Forestry, Bajaj Y.P.S. (Hrsg.) Springer Verlag, 1986-1999
[2] Beale, J.M., Floss, H.G., Lehmann, T., und Luckner, M.: Digitoxigenin-3β-O-[β-D Fucopyranosyl-4´-β-D-Glucopyranoside], the main cardenolide of somatic embryos of Digitalis lanata. Phytochemistry 10 (1988) 3143-3146.
[3] Fowler, M.W.: Problems in commercial exploitation of plant cell cultures in: Application of Plant Cell and Tissue Culture. Wiley Chichester (Ciba Foundation Symposium 137 (1988) 239-253.
[4] Grundlach, H., Zenk, M.H.: Biological activity and biosynthesis of pentacyclic oxylipins: The linoleic acid pathway 47 (1998) 527-537.
[5] Kreis, W. und Reinhard E.: Production of Desacetyllanatoside C by Digitalis lanata cell cultures in: H. J. J. Nijkamp, L. H. W. van der Plas und J. van Aartrijk (Hrsg.): Progress in Plant Cellular and Molecular Biology, Kluwer, Dordrecht, 1990, 706-711.
[6] Li, Shu Ming, Henning, S., Heide, L.: Shikonin: a geranyl-diphosphate derived plant hemiterpenoid formed via the mevalonate pathway. Tetrahedron Lett. 39 (1998) 2721-2724.
[7] Luckner, M., Wichtl, M.: Digitalis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 2000.
[8] Meinhard, B., Zenk, M.H.: Purification and characterization of acetyl coenzym A: 10 hydroxytaxane O-acetyltransferase from cell suspension cultures of Taxus chinensis. Phytochemistry 50 (1999) 763-774.
[9] Roos. W., Evers, S., Hieke, M., Tschöpe, M., Schumann, B.: Shifts of intracellular pH distribution as a part of the signal mechanism leading to the elicitation of benzophenanthridine alkaloids. Plant Physiology 118 (1998) 349-364.
[10] Sommer, S., Kohle, A., Yazaki, K., Shimomura, K., Bechthold, A., Heide, L.: Genetic engineering of shikonin biosynthesis by hairy root cultures of Lithpspermum erythrorhizon transformed with bacterial ubiC gene. Plant Mol. Biol. 39 (1999) 683-693
[11] Teuscher, E.: Probleme der Produktion sekundärer Pflanzenstoffe mit Hilfe von Zellkulturen. Pharmazie, 28 (1973) 6-18.
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