Lexikon der Optik: Figurwahrnehmung
Figurwahrnehmung, Dingwahrnehmung, Gegenstandswahrnehmung, ein Bereich der optischen Wahrnehmungspsychologie, der sich mit dem Zustandekommen und den Gesetzmäßigkeiten des Vorgangs der Ding- oder Figurentstehung im Wahrnehmungsfeld befaßt.
Die Gesamtheit einer sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzenden oder aus methodischen Gründen in Teile zerlegten Figuranordnung heißt Figuration oder Konfiguration.
Unter einer Wahrnehmungsfigur versteht man im allgemeinen die im Außenraum wahrgenommene Figur oder Figuration, die sich aufgrund einer bestimmten Reizverteilung auf der Netzhaut abbildet und auf dem Wege zur Hirnrinde (Sehbahn) sowie in der zentralen Endstätte (der Area striata) zu einem Figureindruck gestaltet wird. Bei der Wahrnehmung eines Dinges im Außenraum gibt es kein empfindungsfreies Sinnesgebiet für die Umgebung der Figur.
Ein Gegenstand im Außenraum kann nur als Figur wahrgenommen werden, wenn er sich von einem anders beschaffenen Grund abhebt. Ein anschauliches Ding sieht nicht nur fest aus, es ist es auch im funktionellen Sinne. Ändert man z.B. eine gegebene Verteilung von Lichtreizen so, daß das entsprechende Sehding seine Form oder Größe ändert oder sich in seiner Umgebung verlagert, so wird es stets als bewegt wahrgenommen. Eine ganze Reihe von wichtigen Erscheinungen der Bewegungs- und Tiefenwahrnehmung, z.B. die Fähigkeit, im Film körperliche Dinge sich bewegen, drehen oder von vorn nach hinten verschieben zu sehen, beruhen auf derartigen Effekten.
Die Figurähnlichkeit ist vom gleichlautenden geometrischen Sachverhalt zu unterscheiden. In der Wahrnehmung sind Figuren einander ähnlich, wenn sie in den Funktionen ihrer Teilgebilde zum Figurganzen übereinstimmen. Ähnliche Wahrnehmungsfiguren brauchen u.U. in keinem ihrer Merkmalselemente übereinzustimmen und können sich dabei ähnlicher sein, als wenn Kongruenz im geometrischen Sinne von einzelnen Merkmalselementen bestünde. Unter Figurfestigkeit oder Figurstärke versteht man die anschauliche und funktionale Erhaltung der Eigenschaften von Wahrnehmungsfiguren bei Änderung der äußeren Bedingungen, unter denen die Figuren dargeboten werden. Geschlossene Figuren sind fester als offen verzweigte. Ecken und Kanten sowie als Grenzen zwischen natürlichen Gliedern wirkende Stellen sind diejenigen Stellen, an denen Formveränderungen eines gegliederten Ganzen in erster Linie wahrgenommen werden.
Als einförmige Gebilde bezeichnet man solche, deren Gefügeeigenschaften als homogen und ungegliedert beschrieben werden. Bei Änderung der Reizbedingungen wie Änderung der Darbietungszeit, der Größe, der Figur usf. ändern manche solcher ungegliederten Gebilde ihre Eigenschaften und gliedern sich durch.
Bei der schrittweisen Herausbildung von Wahrnehmungsfiguren ist die Vorgestalt ein ungegliedertes, spannungsgeladenes Durchgangsstadium auf dem Wege zur durchgegliederten Endgestalt.
Als Endgestalt oder ausgezeichneten Endzustand bezeichnet man dabei das Stadium, in welchem das optische Gebilde in der Wahrnehmung eine maximale Einfachheit und Spannungslosigkeit zeigt. So tendieren Winkel von 88° oder 93° zum rechten Winkel, offene Kreise schließen sich und Lücken werden ausgefüllt.
Als Figurzerfall oder Gestaltzerfall bezeichnet man die Auflösung eines durchgegliederten Wahrnehmungsbildes in unabhängige funktionslose Einzelelemente bei gleichzeitigem Verlust der Gestaltseigenschaften. Figurzerfall tritt in bestimmten Phasen psychischer Sättigung, d.h. zentraler Ermüdung auf. Diese Figursättigung ist nicht zu verwechseln mit der physiologischen Rezeptorermüdung im peripheren Teil des Wahrnehmungsapparates, sondern als eine zentrale Ermüdung aufzufassen, die Figur zerfällt. Der Ermüdungsgrad kann durch Messung der optischen Flimmerverschmelzungsfrequenz ermittelt werden.
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