Metzler Philosophen-Lexikon: Saint-Simon, Claude Henri de
Geb. 17. 10. 1760 in Paris;
gest. 19. 5. 1825 in Paris
»Steht auf, Herr Graf, große Taten warten auf Euch«, mit diesen Worten ließ sich schon der 15jährige S.-S. allmorgendlich von seinem Kammerdiener wecken. Große Taten im konkreten Sinne hat der Graf allerdings nicht vollbracht, sondern statt dessen mit mächtiger Imaginationskraft große Entwürfe und Utopien mit dem Ziel der Veränderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen vorgelegt, die ihn zu einem »der Utopisten des Industriezeitalters« (Ernst Bloch) und zu einem Vorläufer des Sozialismus haben werden lassen. Utopische Pläne verfolgte schon der junge S.-S. – In Amerika – er nahm als Offizier des französischen Expeditionskorps am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teil – schlägt er dem Vizekönig von Mexiko den Bau eines Kanals zwischen Atlantik und Pazifik vor. Nach Europa zurückgekehrt, versucht er den Spaniern den Bau eines Kanals von Madrid zur Küste schmackhaft zu machen. Alles, was groß und phantastisch ist, zieht ihn an. So träumt er von einer Bank mit gewaltiger Kapitalkraft, die menschheitsbeglückende Projekte finanzieren soll. Mit den politisch-gesellschaftlichen Zielen der Revolution von 1789 – Abschaffung aller Standesprivilegien – sympathisiert er zwar, doch verzichtet er auf aktive politische Mitarbeit und profitiert statt dessen von den wirtschaftlichen Folgen der Revolution: Als Käufer enteigneter Kirchengüter gelangt er durch Bodenspekulationen zu immensem Reichtum – und verschwendet diesen wieder in wenigen Jahren in einem Leben als Grand-Seigneur und Förderer von Kunst und Wissenschaft. Im Jahre 1805 steht er vor dem finanziellen Ruin. In den folgenden zwanzig Jahren – durchweg in größter Armut, immer auf der Suche nach einem Mäzen – verfaßt er seine Schriften. Am Anfang der philosophisch-gesellschaftlichen Werke S.-S.s steht eine politische Utopie: die Forderung nach einer europäischen Konföderation mit europäischem Parlament, das über die allen Europäern gemeinsamen Interessen verbindlich entscheiden solle. Zu der Einheit Europas sollen England und Frankreich, da sie schon parlamentarische Regierungsformen besäßen, den ersten Schritt tun. Ein noch zu vereinigendes Deutschland solle sich diesem neuen Europa anschließen; und unterstünden diese drei Nationen erst einmal einem gemeinsamen Parlament, dann würden sich die anstehenden Probleme Europas unschwer lösen lassen (De la Réorganisation de la Société Européenne ou de la Nécessité et des Moyens de rassembler les peuples de l Europe en un seul corps politique en conservant à chacun son indépendance nationale, 1814). Eine politische Utopie, gewiß. Doch bedenkt man, daß, als S.-S. seine Vorstellungen von einer europäischen Einheit verkündete, die Nationen Europas im Gefolge der Französischen Revolution bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten im Krieg miteinander lagen, dann erscheint S.-S.s Traum geradezu als eine politische Notwendigkeit. Doch nicht mit seinen politischen Entwürfen, so aktuell sie uns heute auch anmuten, sondern mit seiner Utopie einer neuen Gesellschaftsordnung, die man, vereinfacht gesagt, als Theorie der technokratischen Gesellschaft kennzeichnen könnte, hat S.-S. dank der Propaganda seiner Jünger im 19. Jahrhundert Einfluß und Bedeutung gewonnen.
Grundprinzip der neuen Gesellschaft ist die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder durch die Produktion nützlicher Güter. Alle verfügbaren Kräfte werden auf die Steigerung der Produktion mit dem Ziel, den Wohlstand aller zu vermehren, ausgerichtet (L Organisateur, 1819–20). Eine primär ökonomische und weniger eine politische Ideologie ist also die staatstragende Idee in S.-S.s Gemeinwesen. Wenn der Produktion das größte Gewicht in der neuen Gesellschaft beigemessen wird, dann ist es für ihn nur konsequent, daß den Produzenten der Güter auch die Macht im Staate übertragen werden muß und daß der Rang, den der einzelne innerhalb der Gesellschaft einnimmt, bestimmt wird von dem Gewicht seines produktiven gesellschaftlichen Beitrags. Das Prinzip der Verteilung »Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Leistungen« wurde von S.-S.s Schülern formuliert. – Die neue Gesellschaft ist also keine demokratische, sondern eine hierarchisch geordnete Gesellschaft mit einer aristokratischen Führungsgruppe. Aristokratisch jedoch nicht in dem überlebten Sinne der Herrschaft einer müßiggängerischen Feudalschicht, gleich ob adeliger oder bürgerlicher Herkunft, sondern aristokratisch in dem Sinne der Herrschaft der produktiven Klasse über alle anderen Klassen. »La classe industrielle« nennt S.-S. diese neue führende Klasse und die Herrschaft, die sie ausübt, ganz entsprechend »le régime industriel« (Du Système industriel, 1821; Catéchisme des Industriels, 1823–24). Der »Industrielle« ist für S.-S. nicht nur der Unternehmer im heutigen Wortverstande. Den »Industriellen« definiert er vielmehr als »einen Menschen, der arbeitet, um zu produzieren oder um den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft eine oder auch mehrere materielle Möglichkeiten anzubieten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen« (Catéchisme des Industriels). In diesem Sinne gehören Bauern und Handwerker, Kaufleute und Matrosen, Fabrikanten und Bankiers und auch die »Proletarier« zu den Industriellen, wobei allerdings die Unternehmer die »chefs naturels« der Arbeiterschaft sein sollen. Daß die marxistische Kritik die Vorstellung von einer einzigen und geschlossenen arbeitenden Klasse als »utopisch« und als »Geblendetsein durch junges industrielles Up to date« (Ernst Bloch) ablehnen mußte, liegt auf der Hand. Innerhalb der als »corporation« strukturierten »classe industrielle« nehmen die Bankiers als Verwalter des modernen Wirtschaftslebens den ersten Platz ein, da sie neben ihren eigenen Interessen das Allgemeininteresse aller »Industriels« am stärksten berücksichtigen. S.-S.s neue Gesellschaft beruht neben dem ökonomisch-produktiven Prinzip auf der Vorstellung der Ungleichheit der Menschen, die allerdings ausschließlich durch deren unterschiedliche Fähigkeiten bedingt ist. Er beruft sich mit dieser Vorstellung u. a. auf die sogenannten »Idéologues« des 18. Jahrhunderts, etwa Condorcet. Gemäß diesem Grundsatz der angeborenen unterschiedlichen Begabungen propagiert er eine Dreiteilung der Gesellschaft in Industrielle, Wissenschaftler und Künstler, wobei die letzten beiden Korporationen immer der ersten unterstellt bleiben. Aufgabe der Wissenschaftler sei es, den »pouvoir spirituel« auszuüben, d.h. vor allem, die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Produktionssteigerung zu schaffen. Eine nicht minder dienende Funktion haben die Künstler: Sie sind die Propagandisten der Zukunftsvisionen der neuen Gesellschaft.
Am Ende seines Lebens sucht S.-S. die Härten seines rationalistisch-ökonomischen Gesellschaftsmodells mit Hilfe der Religion zu entschärfen. Kernpunkte des Neuen Christentums (Nouveau Christianisme, 1825), das er verkündet, sind die Gebote der Friedfertigkeit und der Brüderlichkeit im Umgang mit den Ärmsten und die Abkehr von allem Aberglauben. Als Soldat unter General Washington und als Nachfahre Karls des Großen pflegte S.-S. sich gerne vorzustellen. Und genau so widersprüchlich wie dieses zweifache Rollenspiel, sowohl dem Alten als auch dem Neuen verhaftet, ist auch seine Gedankenwelt. Sein Traum vom allgemeinen Wohlstand durch Steigerung der Industrieproduktion weist in die Zukunft, sein Bild von der neuen Gesellschaft aber zurück in die Vergangenheit. »Das sind alles nur Kleingeister aus dem Mittelalter« – so urteilt Gustave Flaubert abschätzig über Charles Fourier und S.-S. Gerechter erscheint die Beurteilung, die er bei Ernst Bloch findet: Eine »Haß-Liebe zur Feudalität« zeichne S.-S. vor allem aus.
Siebers-Gfaller, Stefanie: Deutsche Pressestimmen zum Saint-Simonismus, 1830–1836. Frankfurt am Main/Bern/New York 1992. – Régnier, Philippe (Hg.): Le Livre Nouveau des Saint-Simoniens. Tusson 1991. – Klopfleisch, Reinhard: Freiheit und Herrschaft bei Saint-Simon. Frankfurt am Main/Bern 1982. – Bedarida, François/Bruhat, Jean/Droz, Jacques: Der utopische Sozialismus bis 1848. Berlin 1974. – Fehlbaum, Rolf Peter: Saint-Simon und die Saint-Simonisten. Vom Laissez-Faire zur Wirtschaftsplanung. Basel/Tübingen 1970. – Salomon-Delatour, Gottfried: Die Lehre Saint-Simons. Neuwied 1962.
Hans Felten
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