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Lexikon der Mathematik: Die Polnische Schule der Funktionalanalysis

D. Werner

Zahlreiche mathematische Begriffe sind mit den Namen polnischer Mathematiker wie Stefan Banach (1892–1945), Hugo Steinhaus (1887–1972), Juliusz Schauder (1899–1943) und anderen verknüpft, die zwischen den Weltkriegen in der galizischen Stadt Lemberg (poln. Lwów, ukrain. Lwiw) wirkten; man denke nur an Banachraum, Banachscher Fixpunktsatz, Satz von Banach-Steinhaus, Schauder-Basis, Schauderscher Fixpunktsatz etc. Dieser Kreis von Mathematikern schuf die Grundlagen der Funktionalanalysis und ist heute als deren Polnische Schule bekannt.

Der Grundstein zu dieser Schule wurde im Jahre 1916 gelegt, als Steinhaus zufällig während eines Spaziergangs in Krakau zwei junge Männer auf einer Parkbank über das Lebesgue-Integral diskutieren hörte; es handelte sich um Otto Nikodym und Stefan Banach, damals 24 Jahre alt. Steinhaus selbst war nur 5 Jahre älter, aber bereits ein gestandener Mathematiker, denn er hatte 1911 bei Hilbert in Göttingen mit einer Arbeit über Neue Anwendungen des Dirichletschen Prinzips promoviert und war nun Dozent an der Universität Lemberg. Banach hingegen besaß keine formale Ausbildung als Mathematiker, sondern war weitgehend Autodidakt; er hatte lediglich ein abgebrochenes Ingenieurstudium an der Technischen Hochschule Lemberg vorzuweisen und hoffte auf eine mathematische Karriere.

Steinhaus erwähnte seinen neuen Bekannten gegenüber ein Problem über trigonometrische Reihen, das Banach schon kurze Zeit darauf durch ein Gegenbeispiel lösen konnte. Daraus entstand die erste, gemeinsam mit Steinhaus verfaßte Publikation Banachs, der bis zu dessen Promotion fünf weitere über reelle Funktionen und orthogonale Reihen folgten.

Im Juni 1920 reichte Banach in Lemberg seine bahnbrechende Dissertation Sur les opérations dans les ensembles abstraits et leur application aux équations intégrales ein; im selben Jahr wurde er dort Assistent von !Lomnicki, und Steinhaus erhielt eine Professur in Lemberg.

In seiner Doktorarbeit definiert Banach zum ersten Mal den Begriff, den heute fast alle Studenten bereits im ersten Studienjahr kennenlernen: den Banachraum. (Diese Bezeichnung wurde 1928 zum ersten Mal von Fréchet verwandt; in seinen späteren Werken spricht Banach selbst statt dessen von „Räumen vom Typ (B)“.) Eine kurze Zeit später wurde diese Struktur auch von Wiener und Hahn definiert, aber nur Banach hat lineare Operatoren auf Banachräumen systematisch studiert. Ein wesentlicher Grund, weswegen bereits Erstsemester heute lernen können, was ein Banachraum ist, ist die Tatsache, daß der algebraische Begriff des Vektorraums inzwischen eine absolute Selbstverständlichkeit geworden ist; 1920 gab es die Idee des abstrakten Vektorraums jedoch noch nicht, und der erste Teil des Banachschen Axiomensystems definiert den Begriff des R-Vektorraums. So überrascht es nicht, daß im ersten Drittel der Dissertation einige für uns Heutige als Trivialitäten anmutende Aussagen wie „Die Summe zweier linearer Operatoren ist ein linearer Operator“ bewiesen werden, bevor es zu den wirklich interessanten Resultaten kommt; darunter finden sich die in vielen Büchern „Satz von Banach-Steinhaus“ genannte Aussage über Grenzwerte stetiger linearer Operatoren sowie der Banachsche Fixpunktsatz, der anschließend auf Integralgleichungen angewandt wird.

Mit dem Begriff des Banachraums wurde für viele Probleme der Analysis der richtige Rahmen gefunden. Einerseits ist er flexibel und allgemein genug, um wichtige Beispiele als Spezialfälle zu enthalten, andererseits aber nicht so allgemein, daß man keine nichttrivialen Aussagen mehr darüber zeigen könnte. Deswegen ist das Grundvokabular der Funktionalanalysis so wichtig für viele andere Gebiete geworden, und deswegen hat die Dissertation Banachs einen herausragenden Stellenwert in der Geschichte der Mathematik des 20. Jahrhunderts.

1922 habilitierte sich Banach mit der Arbeit Sur le problème de la mesure, in der er die Existenz eines translationsinvarianten endlichadditiven Maßes auf der Potenzmenge von ℝ oder ℝ2 nachweist; vorher hatte Hausdorff die Unmöglichkeit einer solchen Mengenfunktion für die Dimensionen d ≥ 3 gezeigt. Vom Standpunkt der Funktionalanalysis erkennt man in dieser Arbeit einen ersten Fingerzeig in Richtung auf den Satz von Hahn-Banach. Es folgten weitere Arbeiten über Maßtheorie und reelle Funktionen, bevor Banach am Ende des Jahrzehnts, er war inzwischen (1927) ordentlicher Professor in Lemberg geworden, in mehreren Artikeln die Hauptsätze der Funktional-analysis bewies, die heute in keiner Vorlesung über dieses Gebiet fehlen: zunächst in einer gemeinsamen Arbeit mit Steinhaus das Prinzip der Verdichtung der Singularitäten, eine Verschärfung des Satzes von Banach-Steinhaus, dann 1929 in zwei Arbeiten in der neuen Zeitschrift „Studia Mathematica“ den Fortsetzungssatz von Hahn-Banach (Hahn-Banach-Sätze) und den Satz von der offenen Abbildung. Der Satz von Hahn-Banach wurde allerdings bereits 1927 von Hahn gefunden, und in einer kurzen Note Ende 1930 hat Banach dessen Priorität anerkannt.

Dies ist der Zeitpunkt, in dem die Arbeit der Lemberger Schule richtig in Fahrt kommt, denn es finden sich die ersten Schüler ein: J. Schauder entwickelt das Konzept der Schauder-Basis und verfeinert die Rieszsche Eigenwerttheorie kompakter Operatoren; S. Mazur zeigt die Existenz der Banach-Limiten; zusammen mit M. Eidelheit beweist er die Hahn-Banach-Trennungssätze; W. Orlicz definiert die Orlicz-Räume als neue Klassen von Banachräumen und legt die Basis für die Begriffe Typ und Kotyp eines Banachraums; Banach selbst findet den Satz vom abgeschlossenen Graphen sowie seine Version der Sätze von Banach-Alaoglu und Banach-Dieudonné; weitere beteiligte Mathematiker waren u. a. H. Auerbach, S. Kaczmarz, J. Schreier, S. Ulam und S. Saks, letzterer an der Universität Warschau.

1932 erschien als erster Band der neuen Reihe „Monografie Matematyczne“ Banachs Buch Théorie des opérations linéaires, ein Jahr zuvor war eine polnische Ausgabe herausgekommen. In diesem Buch faßte Banach seine Forschungsergebnisse sowie die seiner Schüler und Mitarbeiter zusammen, zum ausführlichen Kommentarteil hat Mazur erheblich beigetragen. Das Buch machte die Banachsche Schule weltberühmt; es dokumentierte einen Triumph der Mathematik in Polen.

Damit dokumentierte es auch einen Triumph der polnischen Wissenschaftspolitik. Im Jahre 1918 hatte Z. Janiszewski, ein junger Topologe, eine Denkschrift vorgelegt, in der er ein Programm für eine eigenständige Entwicklung mathematischer Forschung im wieder unabhängigen Polen vorschlug. Es sah vor, Forschung in vergleichsweise eng umrissenen Gebieten zu konzentrieren, an denen polnische Mathematiker gemeinsame Interessen hatten und bereits international anerkannte Resultate geliefert hatten; ein solches Gebiet war die Mengenlehre inklusive der Topologie. Janiszewski schlug außerdem vor, eine Zeitschrift zu gründen, die sich hauptsächlich der Mengenlehre und Topologie sowie der mathematischen Logik widmen sollte. Schon 1920 gelang es, diesen Vorschlag mit der Gründung der „Fundamenta Mathematicae“ umzusetzen; tragischerweise starb Janiszewski kurz vor Erscheinen des ersten Heftes. Fundamenta Mathematicae wurde die erste spezialisierte mathematische Zeitschrift und zu einem Forum der polnischen topologischen Schule um Sierpi ński, Mazurkiewicz, Kuratowski, Knaster, Borsuk etc., der Bourbaki übrigens mit dem Begriff des Polnischen Raums ein Denkmal gesetzt hat. Auch viele Arbeiten von Banach – z. B. seine Dissertation und seine Habilitationsschrift – und Steinhaus erschienen dort. 1929 folgte die Gründung einer Zeitschrift mit funktionalanalytischem Schwerpunkt, der von Banach und Steinhaus herausgegebenen „Studia Mathematica“, als Sprachrohr der Lemberger Schule. Beide Zeitschriften sind bis heute ihrem Profil verpflichtet und haben ein sehr hohes Ansehen. Die Buchreihe „Monografie Matematyczne“ wurde ebenfalls zu einem Erfolg. Bis 1935 erschienen sechs Bände, die allesamt zu Klassikern geworden sind, u. a. außer Banachs Buch Kuratowskis Topologie und Zygmunds Trigonometrical Series.

In den dreißiger Jahren war in Lemberg ein mathematisches Zentrum von Weltrang entstanden. Gäste wie Fréchet, Lebesgue und von Neumann hielten dort Kolloquiumsvorträge, Schauder wurde für seine Arbeit mit Leray (Leray-Schauderscher Abbildungsgrad) der Metaxas-Preis verliehen, und Banach hielt auf dem Internationalen Mathematikerkongreß 1936 in Oslo einen Hauptvortrag – damals wie heute eine ganz besondere Auszeichnung.

Als Charakteristikum der Arbeitsweise der Lemberger Schule muß erwähnt werden, daß überdurchschnittlich viele Publikationen als gemeinsam verfaßte Arbeiten entstanden sind und daß man sich zur Diskussion mathematischer Fragen lieber im Kaffeehaus als in der Universität traf, und zwar zuerst im Café Roma („[Banach] used to spend hours, even days there, especially towards the end of the month before the university salary was paid“, so Ulam) und dann, als die Kreditsituation im Roma prekär wurde, im Schottischen Café direkt gegenüber. Dort haben endlose mathematische Diskussionen stattgefunden, hauptsächlich zwischen Banach, Mazur und Ulam („It was hard to outlast or outdrink Banach during these sessions“, schreibt letzterer), deren wesentliche Punkte in einer vom Kellner des Schottischen Cafés verwahrten Kladde festgehalten wurden; bevor sie angeschafft wurde, schrieb man – sehr zum Ärger des Personals – direkt auf die Marmortische. Diese Kladde ist heute allgemein als „das Schottische Buch“ bekannt; es ist, mit einleitenden Artikeln und Kommentaren versehen, von Mauldin als Buch herausgegeben worden. Im Schottischen Buch werden Probleme der Funktionalanalysis, der Theorie der reellen Funktionen und der Maßtheorie diskutiert; manche sind bis heute ungelöst geblieben. Für einige Probleme wurden Preise ausgesetzt, die von einem kleinen Glas Bier über eine Flasche Wein bis zu einem kompletten Abendessen und einer lebenden Gans reichten.

Abbildung 1 zum Lexikonartikel Die Polnische Schule der Funktionalanalysis
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017
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Das Schottische Café

Das Problem, für das (von Mazur) eine Gans ausgelobt wurde, ist besonders interessant. Es fragt danach, ob eine stetige Funktion f auf dem Einheitsquadrat bei gegebenem ε durch eine Funktion g der Bauart \begin{eqnarray}g(x,y)=\displaystyle \sum _{k=1}^{n}{c}_{k}f(x,{b}_{k})f({a}_{k},y)\end{eqnarray} so approximiert werden kann, daß stets \begin{eqnarray}|f(x,y)-g(x,y)|\le \varepsilon \end{eqnarray} ausfällt. Das sieht auf den ersten Blick wie eine harmlose Analysisaufgabe aus, und es wird kein Hinweis gegeben, wofür eine Lösung gut wäre. Es stellt sich aber heraus, daß das Problem eng mit einer fundamentalen Frage der Funktionalanalysis verwandt ist. Knapp 20 Jahre später zeigte Grothendieck nämlich in seiner Thèse Produits tensoriels topologiques et espaces nucléaires, daß eine positive Antwort äquivalent dazu ist, daß jeder Banachraum die Approximationseigenschaft (Approximationseigenschaft eines Banachraums) besitzt. Also darf man annehmen, daß in den dreißiger Jahren in Lemberg bekannt war, daß ein Gegenbeispiel zu einem Banachraum ohne Schauder-Basis führt. Diese Episode ist ein Hinweis darauf, daß bei weitem nicht alle Erkenntnisse der Lemberger Schule publiziert wurden. Beispielsweise konnten Banach und Mazur schon ca. 1936 zeigen, daß jeder Banachraum einen abgeschlossenen Unterraum mit einer Schauder-Basis besitzt; der erste Beweis erschien jedoch erst 1958. Ferner besaß Banach offenbar verschiedene Resultate über polynomiale Operatoren, die verlorengegangen sind, da er sich bei vielen seiner Ergebnisse nicht der Mühe unterzog, sie aufzuschreiben und zu redigieren. Übrigens löste P. Enflo das Approximations-problem 1972 durch ein Gegenbeispiel; sein Preis wurde ihm ein Jahr später in Warschau überreicht.

Auch nach der Annexion Ostpolens durch die Sowjetunion 1939 blieben den Lemberger Mathematikern zunächst ihre Arbeitsmöglichkeiten erhalten; Banach wurde korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Kiew, die Opérations linéaires wurden ins Ukrainische übersetzt, und sowjetische Mathematiker wie Ljusternik oder Sobolew reisten nach Lemberg. Das Ende der Lemberger Schule kam im Juni 1941 mit dem Einmarsch der deutschen Truppen. Auerbach, Eidelheit, !Lomnicki, Saks, Schauder, Schreier und viele andere Wissenschaftler wurden von SS oder Gestapo ermordet; eine Liste getöteter polnischer Mathematiker findet man im ersten Nachkriegsheft der Fundamenta Mathematicae (Band 33 (1945)). Ulam war schon 1935 in die USA gegangen, und Kaczmarz war 1939 gefallen.

Steinhaus gelang es, sich bis zum Ende des Kriegs auf dem Land versteckt zu halten; als nach dem Krieg die Bevölkerung Lembergs und mit ihr die Lemberger Universität gezwungen wurde, nach Breslau umzusiedeln, nahm er seine Professur dort wieder auf. Orlicz wurde Professor in Posen und Mazur in Lodz und später in Warschau. Banach starb am 31.8.1945 an Lungenkrebs, nachdem er den Krieg als Hilfskraft in einem bakteriologischen Institut überlebt hatte, wo es seine Aufgabe war, Läuse zu füttern. Kurz vor seinem Tod erhielt er einen Ruf an die Universität Krakau.

Laut seinem Biographen Kaluza gilt Stefan Banach heute in Polen als Nationalheld. Über die rein mathematischen Erfolge hinaus beruht Banachs Bedeutung, wie Steinhaus schrieb, darauf, daß er „ein für alle Mal mit dem Mythos aufgeräumt hat, die in Polen betriebenen exakten Wissenschaften seien denen anderer Nationen unterlegen“. Zu Banachs 100. Geburtstag erschien in Polen eine Sonderbriefmarke, und auch die inzwischen unabhängige Ukraine feierte dieses Ereignis mit einer Tagung an der Lemberger Universität. Noch heute nimmt die Theorie der Banachräume in Polen einen besonderen Platz ein, insbesondere durch die von A. Pelczyński begründete Schule.

Literatur

[1] Banach, S.: Œuvres. 2 Bände. PWN Warschau, 1967, 1979.

[2] Dieudonné, J.: History of Functional Analysis. North-Holland Amsterdam, 1981.

[3] Kaluża, R.: The Life of Stefan Banach. Birkhäuser Basel, 1996.

[4] Kuratowski, K.: A Half Century of Polish Mathematics. PWN Warschau, 1980.

[5] Mauldin, R.D. (Hg.): The Scottish Book. Birkhäuser Basel, 1981.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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