Lexikon der Neurowissenschaft: Bereitschaft
Bereitschaftw, Handlungsbereitschaft, Reaktionsbereitschaft, E readiness, drive, Bezeichnung für eine ordnende und koordinierende Instanz in der Verhaltenssteuerung eines Tieres, einen inneren Zustand, der mitbestimmt, welche Handlungen auf äußere Reize hin bevorzugt ausgeführt werden oder worauf sich die selektive Aufmerksamkeit richtet. Begriffe wie Bereitschaft, Motivation, Drang, Antrieb oder Trieb beschreiben die Beobachtung, daß die Kenntnis der Außenreize meist nicht genügt, um das von ihnen ausgelöste Verhalten eines Tieres zu erklären und vorherzusagen. So wird ein Tier, das bei großer Hitze auf eine Wasserstelle trifft, wahrscheinlich trinken – es sei denn, es hat beispielsweise schon anderswo getrunken. In diesem Fall fehlt trotz adäquater äußerer Reize die innere Bereitschaft (Durst). In ähnlicher Weise hängen die meisten Verhaltensweisen von inneren Bedingungen wie Hunger, Sexualtrieb, Allgemeinerregung usw. ab. Eine Ausnahme bilden die Reflexe, die durch die zugeordneten äußeren Reize immer auslösbar sind. Sie haben oft eine Schutzfunktion (Lidschlußreflex, Stolperreflex), die nicht von inneren Bedingungen abhängen darf. Für bereitschaftsabhängiges Verhalten gilt dagegen die Regel der doppelten Quantifizierung: Die Stärke der Reaktion ist ein Resultat sowohl von der Stärke der Außenreize als auch von der Stärke endogener Faktoren, also der Höhe der Bereitschaft. Eine mittlere Reaktionsstärke kann sowohl von schwachen Außenreizen bei hoher Bereitschaft, von mittleren Außenreizen bei mittlerer Bereitschaft als auch von starken Außenreizen bei geringer Bereitschaft ausgelöst werden. Die Bereitschaft hängt von zahlreichen inneren und äußeren Faktoren ab, z.B. 1) vom Versorgungszustand des Körpers mit Wasser, Nahrung und Luft; 2) von der Konzentration bestimmter Hormone, insbesondere von Sexualhormonen, Wachstumshormonen usw.; 3) vom Entwicklungsstand, z.B. zeigen nur Jungtiere eine Nachfolgebereitschaft dem Elterntier gegenüber, nur sehr junge Säugetiere haben einen Saugtrieb; 4) vom vorangegangenen Verhalten, so senkt bei einigen Verhaltensweisen die Endhandlung die Bereitschaft, dieses Verhalten erneut zu zeigen; 5) von vorausgegangenen Sinnesreizen, z.B. steigern Schreckreize häufig für längere Zeit die Fluchtbereitschaft; 6) von inneren Rhythmen, z.B. sinkt die allgemeine Aktivitätsbereitschaft immer mehr ab, je näher die Schlafperiode eines Tieres heranrückt (Allgemeinerregung). – Systemtheoretisch kann jede Bereitschaft als ein Verrechnungszentrum beschrieben werden. Ihre Funktion besteht darin, das Verhalten über längere Zeit hin auf bestimmte Ziele auszurichten und andere Ziele nicht zu verfolgen. Die miteinander konkurrierenden Bereitschaften stellen also eine zeitliche Ordnung im Verhalten her, indem sie sich (von Ausnahmen abgesehen) nur träge gegenseitig in der Führung des Verhaltens ablösen. Auf jedes Verrechnungszentrum kommen eine Vielzahl von Eingängen (Reize usw.), und jedes vermag eine große Anzahl von Ausgängen anzusteuern. Jeder Eingang und Ausgang kann dabei auf mehr als eine Bereitschaft bezogen sein (Instinktmodell nach Baerends, siehe Abb. 2 ). Auch stehen nicht alle Bereitschaftszentren nebeneinander, sondern es gibt hierarchische Ordnungen (Instinktmodell nach Tinbergen, siehe Abb. 1 ). Während die Struktur der Bereitschaften in ihrem physiologischen Aufbau für jede Tierart angeboren ist, hängt die Zuordnung der Ein- und Ausgänge auch von Lernprozessen (Lernen) ab, ist also durch individuelle Erfahrung veränderbar. Antrieb, Triebe und Bereitschaften lassen sich als Funktion zentralnervöser Verrechnungen verstehen, die eine Vielzahl von Sinnesmeldungen aus dem Körper und der Außenwelt verarbeiten, und die mit ihrer eigenen Aktivität wiederum viele verschiedene Zentren und Nervenbahnen beeinflussen. Aus diesen Verrechnungen ergeben sich Verhaltenstendenzen, die sich auch gegenseitig beeinflussen können. Die Stärke einer Bereitschaft kann als das verschieden hohe Erregungsniveau eines Verrechnungszentrums verstanden werden. Verschieden hohe Bereitschaften entstehen aus konkurrierenden Erregungsniveaus, die im Wettstreit auf die Verhaltenssteuerung einwirken. Diese informationstheoretische Deutung von Antrieb und Bereitschaft ersetzte die älteren Vorstellungen (Allgemeinerregung), die annahmen, daß es sich bei einem Antrieb um eine Form von vitaler Energie handle oder daß er auf der Produktion eines hormonähnlichen Stoffes beruhe. Heute werden allerdings auch diese Modelle vielfach als überholt bzw. unzureichend beurteilt. – Die neuronalen Grundlagen von Bereitschaft, Antrieb und Motivation beruhen insbesondere auf unspezifischen Hirnregionen, die viele sensorische Informationen zugleich erhalten und wiederum in verschiedene Hirnregionen projizieren, die sowohl sensorische als auch motorische Funktionen haben können. Bei Säugetieren einschließlich des Menschen ( siehe Tab. ) befinden sich die wichtigsten Bereitschaftszentren im Vorderhirn (u.a. medialer Frontalcortex, mediales Vorderhirnbündel, Bulbus olfactorius), im Hypothalamus (einem Teil des Zwischenhirns; Diencephalon) und im Thalamus. Die elektrische Reizung dieser Hirnregionen erzeugt oft komplexe Verhaltensweisen, die emotional getönt sein können, zum Beispiel Wut, Angst, Aggression, Freß- oder Sexualverhalten. Ähnliche Effekte erzielen Stimulationen des cingulären und entorhinalen Cortex und des limbischen Systems einschließlich der Amygdala. Solche Experimente belegen, daß die genannten Hirnregionen eine wichtige Rolle bei der Steuerung motivierten Verhaltens spielen. Die allgemeine Aktivitätsbereitschaft (die für viele andere Bereitschaften Voraussetzung ist) wird von der Formatio reticularis des Hirnstamms und vom Locus coeruleus gesteuert. Viele Axone der Nervenzellen dieser Regionen sind stark verzweigt. Dadurch können leicht weite Bereiche des Großhirns erregt werden, zum Teil auch des Zwischenhirns. – Die unterschiedlichen Begriffe Bereitschaft, Antrieb, Trieb und Motivation sind nur schwer gegeneinander abzugrenzen und werden oft synonym gebraucht. Der Begriff Bereitschaft wird bevorzugt gewählt, wenn die Verhaltensabläufe eines Individuums vor allem von Außenreizen abhängig sind. Die Begriffe Aggressions- und Fluchtbereitschaft weisen außerdem auf den stärker reaktiven Charakter hin (doppelte Quantifizierung, Leerlaufhandlung). Antrieb betont dagegen, daß die Verhaltensweise mehr von den inneren Bedingungen abhängt, etwa dem Hungerzustand eines Individuums, dem Kontaktbedürfnis eines Säuglings usw., und gegebenenfalls auch staubar ist. Dem Wort Bereitschaft gibt man in der Verhaltensbiologie immer mehr den Vorzug gegenüber dem des Antriebs. Die Bezeichnung Trieb wird nur benutzt, wenn es sich um zentrale Bereitschaften handelt, die ein ganzes funktionelles System im Verhalten steuern (z.B. Sexualtrieb). Einem solchen Trieb ist daher auch ein ganzer Bereich des Appetenzverhaltens zugeordnet. Der aus der Psychologie stammende Begriff Motivation wird heute eher im Sinne einer Bereitschaft zur Ausführung eines bestimmten Verhaltens und der Beschreibung eines inneren Zustandes gebraucht (Motivationsanalyse).
Bereitschaft
systemtheoretische Modelle:
Bei den in der Ethologie früher benutzten, heute aber als überholt geltenden theoretischen Instinktmodellen, die den hierarchischen Aufbau von Verhaltensweisen veranschaulichen sollten, liegt die Betonung zu einseitig auf dem angeborenen Anteil der Handlungen. Diese vereinfachten Modelle erwarteten ein neurophysiologisches Korrelat zu der thoeretisch geforderten Akkumulation reizspezifischer Energien oder vermuteten eine hierarchische Organisation von Motivationszentren, was sich bis heute nicht bestätiogen ließ.
1 Instinktmodell nach Tinbergen
Das hierarchische Instinktmodell Tinbergens beschreibt eine Hypothese zu der Frage, wie sich antriebsabhängige Verhaltensweisen zu einer funktionierenden Handlungskette ordnen können. In dem Modell wird ein Zentrum (Z) durch motivierende (bereitschaftssteigernde) Faktoren aktiviert. Die blockierte Erregung kann erst auf nachgeordnete Zentren wirken, wenn äußere Reize die Hemmung über einen Auslösemechanismus beseitigen. Für die untergeordneten Zentren gilt dann dasselbe. Solange ein Block besteht, kann ein Appetenzverhalten ablaufen, das aber die Bereitschaft nicht senkt. Zentren gleicher Stufe hemmen einander, so daß das am stärksten erregte Zentrum über die anderen dominiert.
2 Instinktmodell nach Baerends
Die Darstellung der Ordnung bereitschaftsabhängiger Verhaltensweisen zeigt, daß untergeordnete Steuerzentren häufig mehreren übergeordneten Zentren (und damit mehreren Funktionskreisen des Verhaltens) zugeordnet sind. Elementare Bewegungen können so von verschiedenen übergeordneten Bereitschaften abhängen. Auch hier hemmen sich Zentren desselben Niveaus gegenseitig, so daß sich das am stärksten aktivierte allen anderen gegenüber durchsetzt. Nicht dargestellt ist, welche Eingänge auf jedes Zentrum wirken, und wie die Erregung jeweils an das nachgeordnete Zentrum weitergeleitet wird (siehe Instinktmodell nach Tinbergen).
Bereitschaft
wichtige Bereitschaften und ihr subjektiv empfundener Ausdruck beim Menschen:
Nahrungstrieb (Appetit, Hunger)
Trinkbereitschaft (Durst)
Atemtrieb (Atemdrang)
Bereitschaft zur Temperaturregulation (frieren, schwitzen)
Schlafantrieb (Müdigkeit)
Sexualtrieb (sexuelle Erregung, Libido)
Kampfbereitschaft (Ärger, Zorn, Wut)
Fluchtbereitschaft (Schreck, Angst, Panik)
Erkundungstrieb (Neugierde, Interesse)
Spielbereitschaft (Spiellaune)
Kontaktbereitschaft (Kontaktwunsch, Zärtlichkeit)
Pflegebereitschaft (Fürsorgegefühl)
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