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Lexikon der Neurowissenschaft: Aggression

Aggressionw [von latein. aggressio = Angriff], aggressives Verhalten, Eaggression, Bezeichnung für Verhaltensweisen, die zur Realisierung individueller oder kollektiver Verhaltensvollzüge mit Drohung, Zurückdrängung, physischer Beeinträchtigung (Verletzung) oder gar Tötung des Gegners verbunden sein können, daher vielfach mit direktem Angriffsverhalten verbunden sind und Kooperation mit dem Gegner weitestgehend ausschließen ( siehe Tab. 1 ). Je nachdem, ob die Auseinandersetzung zwischen Artgenossen oder Artfremden stattfindet, unterscheidet man intraspezifisches (innerartliches) und interspezifisches (zwischenartliches) aggressives Verhalten. Eine besondere Form stellt aggressives Verhalten innerhalb eines Räuber-Beute-Systems dar, da dabei die Tötung im Rahmen des Nahrungsverhaltens steht. – Während lange Zeit in Ethologie und Psychologie die Ursache der Aggression in einem eigenständigen Trieb (Triebstauhypothese nach K. Lorenz, Todestrieb nach S. Freud u.a.), also eine primär endogene Verursachung angenommen wurde (vergleichbar mit Nahrungstrieb oder Sexualtrieb), haben die letzten Jahrzehnte gezeigt, daß diese Vorstellungen nicht haltbar sind. Aggressives Verhalten läßt sich in den verschiedensten Funktionskreisen beobachten und dient dort in unterschiedlichster Weise dem direkten Wettbewerb um Ressourcen (Mehrzweckverhalten; siehe Zusatzinfo ). Es wird zunehmend der Begriff des agonistischen Verhaltens verwendet, zu dem neben der Aggression auch Verhaltensweisen des Verharrens, der Verteidigung sowie Fluchtverhalten gezählt werden. Telemetrische elektrische Reizungen in relevanten Zwischenhirnregionen (Diencephalon) zeigten, daß in Abhängigkeit von äußeren Konstellationen Elemente der Flucht, des Verharrens bzw. des Angriffs ausgelöst werden können. Wenn auch Verletzungen und Tötungen bei aggressivem Verhalten nicht ausgeschlossen sind (Soziobiologie), werden viele aggressive Auseinandersetzungen in Form von Drohverhalten, Kommentkämpfen und ritualisierten Auseinandersetzungen (z.B. bei Balz und Brunft; Ritualisierung) ausgetragen. – Entsprechend dem Prinzip der doppelten Quantifizierung gilt, daß die Reaktionsstärke des aggressiven Verhaltens sowohl auf die aktivierte innere Bereitschaft im Rahmen eines bestimmten Funktionskreises, als auch auf äußere aggressionsauslösende Situationen zurückzuführen ist. Somit ist die reaktive Komponente bei Aggression ein ganz entscheidendes Moment. Stehen dem Vollzug eines Verhaltens keine entsprechenden Widerstände entgegen, wird normalerweise die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von aggressivem Verhalten geringer werden oder gar gegen null gehen. Vielfach kommt es zum Wechsel zwischen Angriffs-, Flucht- und Verteidigungsverhalten. Auch Angst kann die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten steigern. Dies ist – auch beim Menschen – eine für das einzelne Individuums entscheidende, biologisch sinnvolle Notfallreaktion. Gleichzeitig aber kann eine in Menschengruppen auftretende Panik eine nicht mehr zu kontrollierende Katastrophe auf der Basis von Aggression aus Angst sein. – Das vermehrte Auftreten von aggressivem Verhalten im Rahmen sexueller Rivalität insbesondere beim männlichen Geschlecht korreliert offenbar mit dem Sexualhormon Testosteron. Dieses Hormon steigert mit der sexuellen Appetenz auch die Aggressivität: Weibliche Artgenossen werden umworben, männliche als Rivalen bekämpft. Aggressivität als Maß der Bereitschaft, aggressiv zu reagieren, scheint neben geschlechtstypischen Faktoren (geschlechtsspezifisches Verhalten) auch durch entwicklungsbedingte, zeitlich begrenzt wirkende Faktoren beeinflußt zu werden, was z.B. an Kriminalstatistiken deutlich wird, die eine übernormale Beteiligung männlicher Jugendlicher im Alter von etwa 15 bis 25 Jahren an Gewaltdelikten aufweisen. – Nicht selten tritt aggressives Verhalten gemeinschaftlich, d.h. in Gruppen auf (Gruppenaggressivität), so z.B. bei der gemeinsamen Abwehr von Freßfeinden (z.B. Hyänenrudel) oder gegenüber Reviereindringlingen bei Koloniebrütern u.a. Solche kollektiven Reaktionen haben wichtige, die Gruppenstruktur sichernde und erhaltende Funktionen. Sie werden vielfach durch Warnsignale ausgelöst, die auch Gruppenangehörige mit einbeziehen, die nicht unmittelbar von der Störung betroffen sind. Bei sozialen Insekten (staatenbildende Insekten) sind die kollektiven Formen der Aggression besonders hoch entwickelt. So verfügen viele Ameisenarten sowie auch die Honigbiene über Warnstoffe, die das ganze Volk kampfbereit machen. Ameisenvölker verteidigen kollektiv ihre chemisch markierten Reviere. Aggression ist als Rangstufenrivalität ein wesentlicher Faktor zur Konsolidierung komplexer hierarchischer Sozialstrukturen, insbesondere bei Primatengesellschaften und so auch beim Menschen. – So wird verständlich, daß aggressive Verhaltensoptionen einen hohen Anpassungswert und damit einen positiven Selektionswert haben, jedoch nur dann zu evolutionsstabilen Strategien beitragen können, wenn gleichzeitig artspezifisch aggressionshemmende und/oder kooperative (bzw. reziprok altruistische) Verhaltensstrategien bestehen (Aggressionshemmung). Die Entwicklung des Menschen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ohne die stammesgeschichtlich adaptive Fixierung aggressiver Verhaltensoptionen in den erörterten Funktionskreisen verlaufen. Sie scheinen daher in der "biologischen Vorgabe" seiner Verhaltensstruktur verankert zu sein. Aufgrund rational-kognitiver und traditional-kultureller Einflußgrößen sowie der großen Bedeutung des Lernens für das menschliche Verhalten ergeben sich Besonderheiten für aggressives Verhalten beim Menschen, die offenbar bei Tieren – zumindest in dieser Ausprägung – nicht nachweisbar sind: Aggression aus Gehorsam, aus Nachahmung oder aus rationaler ("kalter") Berechnung ( siehe Tab. 1 ). Kulturenvergleiche zeigen, daß traditionell verankerte ethisch-moralische Codices, aber auch gesellschaftliche Wertungen Quantität und Qualität individueller und kollektiver menschlicher Aggressivität mitbestimmen. Die durch Dollard am Ende der dreißiger Jahre aufgestellte Frustrations-Aggressions-Hypothese, in der als alleinige Ursache des aggressiven Verhaltens beim Menschen Frustrationen (Vereitelungen) von Verhaltensvollzügen im weitesten Sinne angenommen wurden, erklärt somit nur einen, wenn auch nicht unwesentlichen Teil menschlicher Aggressivität. Kriege sind die wohl folgenschwersten kollektiven aggressiven Auseinandersetzungen zwischen Menschengruppen (Genozid, Ethnozid), die in der Kulturgeschichte der Menschheit mit wechselnder Häufigkeit auftreten. Sie scheinen einerseits durch eine Reihe in der Evolution entstandener Verhaltensdispositionen ( siehe Tab. 2 ) mitbestimmt und begünstigt zu werden, andererseits aber auch zu zeigen, daß es die kulturelle Entwicklung des Menschen ist, durch die eine unserem humanistischen Verständnis widersprechende Eskalation einer Strategie der Interessenkonfliktlösung entstehen konnte. Das besagt nicht, daß kriegerische Auseinandersetzungen unausweichlich sind, sondern daß offenbar der menschliche Wille besonders stark gefordert ist, um sie zu verhindern.Ursachen übertriebener Aggression beim Menschen: Übertrieben aggressives Verhalten beim Menschen scheint in vielen Fällen mit Funktionsdefiziten des Frontallappens bzw. des orbitofrontalen Cortex zusammenzuhängen. Dieser dient normalerweise als Kontrollinstanz starker und impulsiver Emotionen und Verhaltensweisen; bei Personen mit starken Aggressionen ist seine Funktion auffällig oft gestört oder fällt u.U. ganz aus. Dadurch können negative Gefühle nicht mehr kontrolliert werden und führen zu übertriebener Gewalt. Auch ein Serotonin-Mangel im Gehirn kann für Aggression verantwortlich sein: manche Personen mit übertriebenen Gewaltausbrüchen haben einen Gendefekt, der bewirkt, daß zu wenig Serotonin produziert wird. Viele Gehirnbereiche, die Stimmungen und Emotionen kontrollieren, enthalten serotoninerge Nervenzellen; ein erniedrigter Serotoninspiegel verhindert deren korrekte Funktion.

Aggression

Tab. 1:wichtige Formen und Ursachen aggressiven Verhaltens:

hauptsächlich der Selbstbehauptung des Individuums dienende Aggressivitätsformen hauptsächlich der Weitergabe des Erbgutes und der Erhaltung von Gruppenstrukturen dienende Aggressivitätsformen speziell beim Menschen auftretende Aggressivitätsformen
Frustrationsaggressivität Jungenverteidigungsaggressivität gelernte Aggressivität durch Nachahmen
Rivalitätsaggressivität (z.B. Nahrungs-, Revier- oder Rangordnungsrivalität) Rangstufenaggressivität Aggressivität aus Gehorsam
Aggressivität aus Angst Außenseiteraggressivität Aggressivität aus Willkür (kalte Berechnung)
spielerische Aggressivität Gruppenverteidigungsaggressivität

Aggression

Es gibt kaum eine einzelne aggressive Handlung, die stets und nur aggressive Funktion hat, sondern nahezu alle kommen auch in nicht-aggressivem Kontext vor. Selbst Endhandlungen, wie das Beißen eines Raubtieres, treten auch als Werbeverhalten bei der Paarung und im Spiel auf (dort allerdings mit einer Beißhemmung gepaart). Endhandlungen wie Schlagen, Beißen, Stoßen usw. sind also bis zu einem gewissen Grad charakteristisch für Aggression, sind aber keineswegs an aggressive Funktionen allein gebunden. Aggressives Verhalten ist damit ein Mehrzweckverhalten. In die "gemeinsame Endstrecke" des Aggressionsverhaltens münden die steuernden Signale von einer ganzen Reihe verschiedener Verhaltensbereitschaften; dies ist die Ursache für die Multikausalität der Aggression. Gleich oder ähnlich aussehende Verhaltensweisen können also auf ganz verschiedenen inneren Bedingungen (z.B. Feindvertreibung, Nahrungsverlangen, Sexualtrieb) beruhen.

Aggression

Tab. 2:einige bei der Kriegführung zum Tragen kommende Verhaltensdispositionen:

- Neigung, einander in geschlossenen Gruppen loyal beizustehen
- Bereitschaft, bei Bedrohung von Gruppenmitgliedern aggressiv zu reagieren
- Motivation insbesondere des Mannes zu kämpfen und zu dominieren
- Neigung, Reviere zu besetzen und zu verteidigen
- Fremdenscheu und Ansprechen auf agonale Signale von Mitmenschen
- Intoleranz gegen Abweichungen von Gruppennormen
- Einstellungsänderungen gegenüber Fremdgruppen aufgrund von Dehumanisierungspropaganda
- Bereitschaft zur Unterordnung in hierarchischen Strukturen
- Bereitschaft zu Gehorsam

  • Die Autoren
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Dr. Hartwig Hanser, Waldkirch (Projektleitung)
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