Lexikon der Psychologie: Religionspsychologie
Essay
Religionspsychologie
Edgar Schmitz
Religionspsychologie ist die Wissenschaft vom religiösen Erleben und Verhalten. Die Definition impliziert die inneren Prozesse der Bildung und Veränderung von Kognitionen, Einstellungen, Erwartungen und die subjektive Repräsentation der Religion, nicht diese selbst. Religiös ist dasjenige Erleben und Verhalten, in dem Menschen sich zu etwas Transzendentem in Beziehung setzen. Religionspsychologie erklärt, wie der Mensch eine religiöse Beziehung, die für sein Leben bedeutungsvoll ist, entwickelt oder eben nicht entwickelt. Religion ist ein symbolisches System von Glaubensaussagen, Einstellungen, Praktiken und Riten, durch die Menschen zu einer transzendenten Welt und zueinander in Beziehung treten. Der Mensch wird religiös, wenn er eine Religion als persönliche Erweiterung akzeptiert. Gläubigkeit und Ungläubigkeit sind trotz ihrer Gegensätzlichkeit in Entstehung und Veränderung ähnlich. Die subjektive Entscheidung hängt von psychischen Prozessen ab – die Psychologen untersuchen (Schmitz, 1992).
Geschichte
Religionspsychologisches Denken beginnt mit Erklärungen des Erlebens, Träumens und Bewußtseins in den Upanishaden, in der antiken und frühchristlichen Philosophie und Mystik (Justin um 150; Tertullian, De anima, um 200). Si enim fallor, sum – wenn man sich täuscht/ sich etwas vormacht, lebt man, lehrt Augustinus (354–430; Gottesstaat, XI 26) und formuliert den Kern des Konstruktivismus (De Magistro, 11-12 zur inneren Repräsentation der Außenwelt) und der Attributionstheorie (Confessiones X 2). Zwischen theologischen und psychologischen Reflexionen wurde nicht unterschieden (Melanchthon: De anima, 1540). Hume beschrieb das religiöse Erleben, Kant reflektierte die ethische Seite der Religiosität. Vorläufer sind Schleiermacher (Reden über die Religion, 1799) und Fechner (Die drei Motive und Gründe des Glaubens, 1863). In der wissenschaftlichen Religionspsychologie lassen sich drei methodische Traditionen unterscheiden: Die transzendentale Religionspsychologie sucht mit phänomenologischer Methode nach psychologischen Begründungen des Glaubens (Wobbermin: Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode, 1921/22), die Tiefenpsychologie sucht von Einzelfallanalysen zu Verallgemeinerungen zu gelangen, die erfahrungswissenschaftliche Tradition fordert empirische Kontrollen der Aussagen. Da durch Kant der Mensch sich selbst in seiner Freiheit entdeckt hatte, war für Theologen die Psychologie wichtig geworden. Man (Ritschl, Wobbermin, Girgensohn, Gruehn, Stählin, Troeltsch) erhoffte Stärkung und Apologetik für die Verkündigung und eine Entschärfung der Rationalitätskrise. Die Tradition wirkt bis heute (Wobbermin, The nature of religion, 1933), u.a. auf die Attachment-Theorie der religiösen Bindung (Kirkpatrick in Spilka & McIntosh, 1997). Für den Tiefenpsychologen Freud war Religion eine universelle Zwangsneurose (Die Zukunft einer Illusion, 1927), die aus dem Ödipus-Komplex herrühre. Der Gläubige sei gegen gewisse neurotische Tendenzen gefeit, da seine allgemeine Neurose ihn der Aufgabe enthebe, eine persönliche Neurose auszubilden. Freuds Sicht, wie der Mensch Religion erschaffe, ist eine historische Marginalie. Jung sah dagegen in der Religiosität die Widerspiegelung von Archetypen (Urbilder) und eine Voraussetzung für seelische Gesundheit. Adler deutete das Übernatürliche immanent. Die empirische Religionspsychologie begann mit Wundts vier Stadien der Entwicklung der Religion: Ära des primitiven Menschen, des Totemismus, der Helden und Götter und der Humanität. Sein Schüler Külpe untersuchte mit Bühler, Marbe, Stählin, Girgensohn, Gruehn anhand autobiographischen Materials und per Assoziationsmethode Phänomene der Bekehrung und der mystischen Erfahrung. Der Wundt-Schüler Hall arbeitete über Merkmale des religiösen Erlebens; Starbuck schrieb 1892 eine Religionspsychologie. Nachhaltig wirkten Coe, Stratton, Leuba. Die Bücher von James (The varieties of religious experience, 1902) und Pratt (The religious consciousness, 1920) sind heute Klassiker. Zu erwähnen sind die Gründungen von The American Journal of Religious Psychology and Education (1904), Zeitschrift für Religionspsychologie (1908), der Gesellschaft für Religionspsychologie (1914), des Archivs für Religionspsychologie (1929). Nach Unterbrechung durch die Nazis nehmen Gesellschaft und Archiv die Arbeit 1960 wieder auf. Einige Länder haben Lehrstühle für Religionspsychologie (Niederlande, Schweden, USA). Die American Psychological Association richtete 1976 die Sektion Spirital Issues ein (1993: Psychology of Religion), die Deutsche Gesellschaft für Psychologie 1994 einen Arbeitskreis Religionspsychologie.
Methoden
Grundsätzlich kommen alle in der Psychologie üblichen Verfahren in Frage: Beobachtung, Befragung, Inhaltsanalyse, Meß- und Testverfahren, Experiment. Da es unmöglich ist, durch reines Nachdenken ohne Empirie Aufschluß über die Beschaffenheit der Welt zu gewinnen, sind erfahrungswissenschaftliche Methoden unabdingbar. Huber (1996) sammelte 61 Skalen und empirische Modelle zur Dimensionalität der Religiosität, zu deren Erfassung Grom, Hellmeister, Zwingmann das Münchner Motivationspsychologische Religiositäts-Inventar (MMRI) entwickeln. Das Konstrukt Religiosität wird als individuelles Merkmal analysiert, d.h. es werden die darin enthaltenen Merkmalsdimensionen ausgewiesen und zu ihrer Erfassung Indikatoren gesucht, um dann die daraus entwickelten Skalen in psychologischen Kontexten mit dem Ziel einzusetzen, das Konstrukt Religiosität zu erfassen. Drei Ansätze lassen sich unterscheiden: 1) Analyse der Religiosität anhand von Dimensionen der Glaubensüberzeugungen, des religiösen Handelns und Erlebens; 2) Messung von religiösen Einstellungen zu religiösen Komplexen; 3) Untersuchung der funktionalen Wechselbeziehung von religiösen Dimensionen zu anderen Merkmalen (Autoritarismus, Liberalismus, Vorurteile, Coping etc). Mit der Selbstkonfrontations-Methode belegt Hermans (Schmitz, 1992), daß Wertungen Ausdruck religiöser Motive sind. Der Zielsetzung der genetischen Forschung (Oser, Reich, Fetz, Valentiner; Schmitz, 1992) kommt die Längsschnittstudie am nächsten. Statt der meist korrelationsstatistischen Studien wären Kausalmodelle und Longitudinalstudien nötig. Die mangelhafte Validität mancher Skalen (z.B. die bloße Zustimmungsrate zu Artikeln des Credos, deren semantischer Gehalt eine lange Tradition birgt, als “Indikator des Glaubens”) zeigt, daß zur Validierung von Instrumenten zur Erhebung von Glaubensaussagen theologische Kenntnisse unabdingbar sind (Forschungsmethoden).
Forschungsthemen
Schwierig ist das Erstellen einer Theorie von Religiosität, religiöser Überzeugung und Verpflichtung und deren Operationalisierung. Sie sollte eine Struktur aufweisen, die das fragliche Phänomen verständlicher macht als bisher, und eine wissenschaftliche, d.h. prüfbare Erklärung. Die Motivierung zur Religiosität wird mit der Theorie der Intrinsischen Religiosität erklärt, wo Motivierung durch Selbstverstärkung erfolgt, etwa als Bestätigung einer für richtig erachteten Norm des eigenen Verhaltens. Die Gegenposition nimmt ein religiöses Bedürfnis an; diese biologistische Annahme korrespondiert mit der theologischen der Prädestination und mit der psychologischen Attachment-Theorie von Kirkpatrick (Spilka & McIntosh 1997). Für den Zusammenhang von Religiosität, dem persönlich organisierten Wertesystem und Sinnerleben gibt es empirische Belege (Schmitz, 1992). Religiosität im entwicklungspsychologischen Kontext wird im strukturgenetischen Ansatz am Zusammenhang zwischen dem Erwachen des moralischen Bewußtseins (Gewissen), der Entwicklung des religiösen Weltbildes und dem Glauben an Gott untersucht (Fetz, Oser, Reich, Valentiner, vgl. Schmitz 1992). Reich hat eine Integration von konstruktivistischen und strukturgenetischen Ansätzen mit einer Taxonomie von Bedingungen und Abschnitten der Entwicklung der Religiosität vorgelegt (Spilka & McIntosh 1997). Spilka versucht, Religiosität attributionstheoretisch zu verstehen: Der Mensch ist bestrebt, besondere Ereignisse, Erfolg und Mißerfolg, ursächlich zu erklären (attribuieren). So ist Religiosität die Bereitschaft, für Ereignisse eher religiöse Attributionen zu nutzen. Diesen liegen die Motive zugrunde, die Welt als etwas Sinnvolles zu verstehen; Ereignisse durch Gebet und Riten kontrollieren zu können oder anzunehmen, daß Gott dies täte; den eigenen Selbstwert durch den Glauben zu fördern, von Gott geliebt zu sein. Solche Attributionen beeinflussen die Bewältigungsstrategien in Belastungssituationen. Attributionen i. S. einer fatalistischen Externalität als generalisierte Erwartung, daß das Leben und bestimmte Ereignisse in ihm vom Glück, Schicksal, von den Sternen beeinflußt werden, haben eine religiöse Komponente. Die unerwartete Heilung, das glückliche Überleben eines Unfalls werden von vielen Menschen, auch Atheisten, i. S. einer Transzendierung der Erfahrung der Diesseitigkeit attribuiert. Seltene Ereignisse, für deren Verursachung wenig Informationen vorliegen, werden eher nach dem Aufwertungsprinzip (augmentation principle) attribuiert.
Offenbar liefert Religion einige besondere Bewältigungsarten, ohne selbst Instrument zu sein. Im Bewältigungsprozeß kann Religiosität a) als unabhängige Variable auf die Bewältigungsergebnisse wirken und b) als abhängige Variable durch die Bewältigung beeinflußt werden. Religionsbezogenes Coping kann stabilisierend sein und hat sich in Lebenskrisen bewährt. Die Kontroverse, ob Religion die seelische Gesundheit fördere/ hemme, wird bis heute geführt. Das gehäufte Vorkommen neurotischer Befunde unter Klerikern, Seminaristen und Mitgliedern strenger Glaubensgemeinschaften ist ebenso belegt wie deren Anziehung auf manche neurotisch disponierte Menschen. Eine Analyse neuerer Befunde zeigt, daß religiöse Intrinsität positiv mit seelischer Gesundheit korreliert, während Extrinsität nur negative Beziehungen aufweist. Dörr fand bei intrinsisch Religiösen die geringsten Depressionswerte und bestätigt Allports Theorie, wonach Intrinsität positiv für die Gesundheit sei (Schmitz 1992). Religion bietet moralisch-ethische Referenzrahmen als Führungsgröße des Handelns (in der Moral Reconation Therapy für antisoziales Verhalten und Drogenmißbrauch). Auch das christliche Prinzip der Vergebung wird in spirituelle Therapietechniken integriert und soll bei erniedrigten Menschen wirksam sein (Schmitz 1992, S. 151; Grom 1996). Das Netzwerk religiöser Überzeugungen bildet als kognitive Repräsentation ein Schema, eine kognitive Struktur. Die Schematheorie der Religiosität wurde für die Konstruktion von Lebenssinn und für die Bewältigung von Traumata genutzt (Spilka & McIntosh 1997). Daß der Modus der Verarbeitung des Todesthemas von der Religion beeinflußt wird, ist belegt; der Bezug zur Terror-Management-Theorie liegt nahe. Religiosität im sozialpsychologischen Kontext, im Gruppenverhalten, die Wirkung von Religion auf Moral und Ethik, auf Aggression und Kriminalität, ihre gesellschaftliche Bedeutung, die charismatischen Gruppen, die neuen religiösen Bewegungen, Sekten sowie psychische Mechanismen der Propaganda wären ebenso wichtige Themen wie eine Ideologiekritik parareligiöser Phänomene und Religionsersatz von der unkritischen Idolverehrung bis zum politischen Personenkult und Massenwahn, Probleme des religiösen Vakuums, der Sinnleere und Langeweile, Intoleranz, die Rolle der Frau in der christlichen (islamischen u.a.) Tradition, Machtmißbrauch und Identitätsprobleme der Kirchen. Auch in anderen psychologischen Forschungsfeldern tauchen religionspsychologische Befunde auf, die oft nicht als solche ausgewiesen werden (z. B. Interviews mit Sterbenden). In den neuen Werken läßt sich ein Trend wachsenden Interesses am Konstruktivismus, an der narrativen, diskursiven, Kultur- und Gesundheitspsychologie und an Themen wie Glück, Sinnerfahrung und Religiosität beobachten.
Literatur
Grom, B. (1992; 1996). Religionspsychologie. München: Kösel/ Vandenhoeck & Ruprecht.
Henning, Ch. & Nestler, E. (Hg) (1998). Religion und Religiosität zwischen Theologie und Psychologie. Frankfurt: Lang.
Pargament, K.L. (1997). The Psychology of Religion and Coping: Theory, Research, Practice. Guilford.
Schmitz, E. (Hg) (1992). Religionspsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Spilka, B. & McIntosh, D. N. (1997). The Psychology of Religion. Theoretical Approaches. Oxford: Westview.
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