Lexikon der Mathematik: Quantenmechanik
Quantenmechanik ist die Theorie für Phänomene mit abzählbar vielen Freiheitsgraden, die durch Größen von der Dimension einer Wirkung (Masse × Länge2 × Zeit−1) charakterisiert sind, deren Betrag in der Größenordnung des Planckschen Wirkungsquantumsh liegt.
Die Geschichte der Quantenmechanik beginnt mit der Formulierung des Planckschen Strahlungsgesetzes im Jahre 1900. Die erste Phase ihrer Entwicklung dauert bis etwa 1925. In dieser Zeit hat man versucht, Regeln zu finden, die die Beobachtungen verständlich machten (Bohr-Sommerfeldsche Quantisierungsbedingung). Hierbei spielte das Korrespondenzprinzip eine herausragende Rolle, also die Forderung, daß sich, wenn h als Parameter aufgefaßt wird, für limh→0 oder einen äquivalenten Grenzübergang die Beziehungen der klassischen Physik ergeben.
Eine durchgängige theoretische Grundlage fehlte aber vorerst. Sie wurde 1925 durch die Heisenbergsche Matrizenmechanik und 1926 durch die Schrö-dingersche Wellenmechanik geliefert. Schrödinger zeigte auch, daß diese beiden Zugänge äquivalent sind.
Die quantenhafte (diskontinuierliche) Natur der mikrophysikalischen Phänomene tritt am augenfälligsten bei der Beobachtung von Spektren auf. Die klassische Mechanik und Elektrodynamik können dafür keine Erklärung liefern: Wenn man sich Atome (im einfachsten Fall) als die Quellen der Spektren vorstellt, in denen sich Elektronen um einen Kern bewegen, dann gibt es dort nach den genannten klassischen Theorien nichts Diskontinuierliches. Das beschleunigt bewegte Elektron (es ändert sich auf alle Fälle die Richtung der Geschwindigkeit beständig) strahlt nach der klassischen Elektrodynamik kontinuierlich Energie ab, und es nähert sich danach kontinuierlich dem Kern. Die Bohrschen Quantenbedingungen „schoben dem einen Riegel vor“.
Bei der Behandlung der Strahlung war der Eindruck entstanden, daß es sich in der Quantentheorie um eine Quantelung der Energie handele. Es stellte sich aber heraus, daß es Größen von der Dimension einer Wirkung sind, die gequantelt werden. Die Quantelung der Energie ist ein sekundärer Effekt.
Der eigentliche Ausgangspunkt war aber eine Diskrepanz zwischen auf der klassischen Physik beruhenden Strahlungsgesetzen und den Beobachtungen. Hier ist es vor allem der Gleichverteilungssatz der klassischen statistischen Mechanik, der die Schwierigkeiten bedingt.
Beim Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik versucht man, die beobachtbaren Größen (Observablen) durch Hermitesche Operatoren zu ersetzen, deren reelle Eigenwerte die Meßwerte sein sollen. Der Zustand eines quantenphysikalischen Systems wird durch ein Element (ℤustandsvektor) (genauer durch einen Strahl der Länge 1, vgl. Strahldarstellung) eines bestimmten Hilbertraumes repräsentiert. Entwickelt man einen Zustandsvektor ψ nach einer Basis, die durch die Eigenfunktionen eines Hermiteschen Operators gegeben ist, dann liefern nach der Bornschen Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Quantenmechanik die Quadrate der Beträge der Entwicklungskoeffizienten die Wahrscheinlichkeiten dafür, die zugehörigen Eigenwerte des Operators zu messen, wenn sich das System im Zustand ψ befindet.
Nach Wahl des Operators, dessen Eigenfunktionen die Basis des Hilbertraums der Zustände aufspannen, unterscheidet man verschiedene Darstellungen der Quantenmechanik (Ortsdarstellung, Impulsdarstellung).
Eine vollständige Beschreibung eines quantenphysikalischen Systems wird durch einen maximalen Satz von unabhängigen vertauschbaren Hermiteschen Operatoren geliefert. Dazu gehören aber nicht gleichzeitig Orts- und Impulsoperatoren. Damit muß sich der quantenmechanische Zustandsbegriff wesentlich von dem der klassischen Mechanik unterscheiden, denn in der klassischen Mechanik wird der Zustand durch einen vollständigen Satz von Lage- und Impulskoordinaten des Phasenraums bestimmt.
Da Orts- und Impulsoperatoren nicht miteinander kommutieren, haben sie keine gemeinsamen Eigenwerte. Durch die Heisenbergsche Unschärferelation wird ausgedrückt, mit welcher Genauigkeit die eine Größe höchstens gemessen werden kann, wenn die Genauigkeit für die Messung der anderen vorgegeben ist.
Die Wahrscheinlichkeitsaussagen sind ein wesentliches Element der Quantenmechanik. Sie unterscheidet sich hierin von der statistischen Physik grundsätzlich, weil statistische Aussagen nicht durch eine vollständige Kenntnis des Systems vermieden werden können. Die Quantenmechanik hat in dieser Beziehung unser Bild von der Realität radikal verändert. Die verschiedenen Möglichkeiten für den Ausgang eine Experiments müssen nun zur Realität hinzugerechnet werden.
Während wir uns in der klassischen Physik die Realität als einen Prozeß (zeitlichen Ablauf) im Raum vorstellen, der durch die Beobachtung in berechenbarer Weise gestört werden kann, ist diese Vorstellung nicht mehr für mikrophysikalische Erscheinungen haltbar. Insbesondere kann man nicht mehr von Teilchenbahnen sprechen, etwa der Bahn der Elektronen im Atom, wenn das ein Begriff sein soll, der mit der Beobachtung verknüpft werden kann: Eine Beobachtung des Ortes eines Elektrons im Atom schlägt dieses Elektron aus dem Atom heraus, und damit kann kein zweiter Ort dieses Elektrons im Atom bestimmt werden.
Die Quantenmechnik hat auch zu einer Korrektur der statistischen Mechanik geführt (Quantenstatistik). Durch h ist eine untere Grenze der Zellen im Phasenraum gegeben. Die Ununterscheidbarkeit von gleichartigen Teilchen hat Einfluß auf die Beziehung von mikro- und makrophysikalischen Zuständen (statistische Physik).
Es hat immer wieder Versuche gegeben, dieser Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik zu entkommen. Es wird die Auffassung vertreten, daß die Wahrscheinlichkeit doch auf eine unvollständige Kenntnis des Systems zurückzuführen ist: Es soll sog. verborgene Variable geben, auf die man im Experiment noch nicht gestoßen ist (Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon, Bellsche Ungleichung).
Die theoretische Durchdringung des Meßprozesses (in der Quantenmechanik) kann wohl auch heute noch nicht als abgeschlossen gelten. Nach der Kopenhagener Interpretation muß man bei einer Beobachtung immer einen Teil haben, der den Gesetzen der klassischen Physik folgt (die makroskopischen Geräte). Dies ist notwendig, weil wir nur so über die Messung sprechen können. Denn unsere Sprache, die in der klassischen Physik nur eine Präzisierung erfahren hat, hat sich mit den Menschen an den makroskopischen Objekten ihrer Umgebung gebildet. Sie ist ungeeignet für die Beschreibung der Mikrowelt.
Erkennt man die Grenzen des Teilchen- und Wellenbildes, d. h., berücksichtigt man die Heisenbergschen Unschärferelationen, kommt man mit beiden Bildern zu widerspruchsfreien Relationen (Welle-Teilchen-Dualismus).
Bei einer Beobachtung wird nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik der Zustand des Systems in einer Weise geändert, die nicht im Rahmen der Quantenmechanik, etwa mit der Schrödinger-Gleichung, beschrieben werden kann. Das Schlagwort ist hier: Reduktion der Wellenfunktion. In der Many-World-Interpretation der Quantenmechanik wird dagegen versucht, die Reduktion der Wellenfunktion im Rahmen des Formalismus’ der Quantenmechnik selbst zu liefern.
Wegen der rechentechnischen Schwierigkeiten bei der Lösung der quantenmechnischen Gleichungen sind Näherungsmethothoden in der Quantenmechanik entwickelt worden. Für Probleme, die sich „in der Nähe der klassischen Mechanik“ befinden, sind das asymptotische Ausdrücke oder Reihenentwicklungen, bei denen h als kleine Größe vorausgesetzt wird (Wentzel-Kramers-Brillouin-Jeffreys-Methode).
Die quantenmechanische Streutheorie stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen der Theorie und dem Experiment dar. Mit einem Ansatz für die Wechselwirkung zwischen mikrophysikalischen Teilchen kann eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für Teilchen nach der Streuung berechnet werden. Der Vergleich mit dem experimentellen Ausgang gibt dann wiederum Hinweise, wie der Ansatz für die Wechselwirkung korrigiert werden muß.
Es gibt bis heute keine Abbildungsvorschrift, die von der klassischen zur Quantenmechanik führt (Quantisierung). Die Beziehung zwischen klassischer und Quantenmechanik ist bis heute Gegenstand der Forschung. Auf verschiedenen Wegen versucht man hier Klarheit zu bekommen: Zu nennen sind einmal algebraische Methoden. Dabei geht man von der kommutativen Algebra der Observablen der klasischen Mechanik (den Funktionen über dem Phasenraum) aus und versucht, durch eine nichtkommutative Deformation dieser Algebra zu einer Quantisierung zu kommen (Quantengruppe). Ein anderer Weg nutzt geometrische Methoden (geometrische Quantisierung). In der Quantenstochastik versucht man, die Relationen der Quantenmechanik dadurch zu erhalten, daß man in die klassische Physik einen stochastischen Prozeß einführt, dessen „Zeit“ aber nichts mit der Zeit zu tun hat, die wir erfahren.
Die Quantenmechanik kann man in einen nichtrelativistischen und einen relativistischen Teil (relativistische Quantenmechanik) spalten.
Dem neuen Bild von der Wirklichkeit, das uns die Quantenmechanik aufzeigt, hat man durch Einführung einer von der zweiwertigen abweichenden Logik versucht, gerecht zu werden (Quantenlogik).
Weiterführende Literatur: [1] führt zurück zu den Wurzeln, [2] gibt eine Darstellung der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, ihrer Kritik und Gegenvorschläge. Einige Gebiete der Quantenmechanik werden in [3] dargestellt.
Literatur
[1] Heisenberg, W.: Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie. Verlag von S. Hirzel Leipzig, 1930.
[2] Heisenberg, W.: Physik und Philosophie. Verlag Ullstein Frankfurt/M., 1959.
[3] Landau, L. D.; Lifschitz, E. M.: Lehrbuch der Theoretischen Physik Bd. III. Akademie-Verlag Berlin, 1985.
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