Lexikon der Psychologie: feministische Psychologie
feministische Psychologie, erhebt den Anspruch, herkömmliche Psychologie kritisch zu überdenken und zu überarbeiten und deren wissenschaftliche Begriffe, Kategorien, theoretische Konstrukte und Theorien als androzentrische Sichtweise aufzuzeigen. Feministische Psychologie entstand Mitte der 70er Jahre mit der Neuen Frauenbewegung und wurde im interdisziplinären Dialog mit feministischer Philosophie und Sozialwissenschaft und in Verbindung mit anderen psychologiekritischen Strömungen weiterentwickelt.
1) Grundsätzlich sind die blinden Flecken und "male bias" der gesamten traditionellen Psychologie Gegenstand feministischer Analyse, wie z.B.:
- Herausarbeiten der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen und -verläufe für Frauen und Männer, der Entwicklung von Geschlechtsidentität und der psychosexuellen Entwicklung von Frauen.
- Empirische Überprüfung des Stufenmodell von Kohlberg (moralische Entwicklung) mit dem Ergebnis, daß Frauen nicht, wie bislang angenommen, auf einer niedrigereren moralischen Entwicklungsstufe verbleiben, sondern qualitativ andere moralische Kategorien benutzen, die sich an Zwischenmenschlichkeit, Fürsorge und Verantwortung orientieren.
- Analyse der Körpersprache mit dem Ergebnis, daß zwischenmenschliche Berührungen abhängig von Status und Macht sind und eine für Frauen als wünschenswert angesehene Gestik, Mimik und Haltung eine Unterwerfung unter männliche Dominanz signalisiert.
- Erarbeiten neuer Therapiekonzepte z.B. für die Behandlung von Eßstörungen, Depressionen und Psychosen.
2) Bislang ignorierte Themen wurden in die wissenschaftliche Psychologie eingeführt, z.B.:
- Verbindung des Konzepts der heterosexuellen romantischen Liebe und Gewalt im Geschlechterverhältnis und Analyse weiblicher Identitätsmustern, die Autonomiestrebungen und Beziehungswünsche miteinander zu vereinbaren versuchen.
- Verinnerlichung kultureller Stereotypen über Männlichkeit und erhöhte Gewaltbereitschaft bei Männern.
- Diagnostik und Behandlung bei sexuellem Mißbrauch von Mädchen und Frauen.
- Weibliche Homosexualität und Lebenserfahrungen lesbischer Frauen.
3) Feministische Methodendiskussion: Feministische Forschung ist weder an eine bestimmte Methodologie noch an bestimmte methodische Verfahren gebunden. Dennoch lassen sich im deutschsprachigen Raum typische Tendenzen zu qualitativen, verstehenden, biografischen und subjektorientierten Verfahren sowie zu text- und diskursanalytischen Verfahren feststellen (Forschungsmethoden). In den Anfängen der feministischen Psychologie waren Konzepte wie bewußte Parteilichkeit für Frauen, gemeinsame Betroffenheit und solidarisches Handeln zentral. Inzwischen werden diese Postulate als zu optimistisch und idealisierend kritisiert.
4) Einwände gegen die feministische Psychologie und Psychotherapie wurden von Frauen der Arbeiterklasse und aus der ehemaligen DDR, Migrantinnen, farbigen, behinderten und lesbischen Frauen vorgebracht, die offenlegten, daß feministische Quasi-Metaerzählungen nicht nur bei der Aufgabe, ihr Leben und ihre Probleme zu erhellen, versagt, sondern auch als verdeckte Vorschriften fungiert haben. Gegenwärtig lassen sich zwei verschiedene erkenntnistheoretische Strömungen unterscheiden:
- Die feministische Standpunkttheorie hält Frauen nach wie vor aufgrund ihrer spezifischen Unterdrückungserfahrungen zu einer tiefgreifenderen Erkenntnis über die Wirklichkeit fähiger als Männer.
- Im Poststrukturalismus gibt es nur partielle, kontextuelle Perspektiven auf die Wirklichkeit. Der Feminismus benötigt das Bündnis mit der Dekonstruktion, um eigene blinde Flecken zu reflektieren und eine in einem breiteren Kontext verortete Metaphilosophie zu entwickeln.
5) Bei gleichzeitiger Gültigkeit der eingangs aufgeführten Gegenstandsbereiche stellen sich der feministischen Psychologie neue Aufgaben, wie z.B.:
- Wie kann über Männlichkeit und Weiblichkeit gesprochen werden, ohne sie als essentialistische Invarianten zu konstruieren?
- Wie interferiert die Kategorie Geschlecht mit Ethnie, Religion, Klasse, sexueller Orientierung?
- Wo sind verallgemeinernde Thesen über "die Frau" nach wie vor notwendig, um das Projekt der Emanzipation nicht zu gefährden, und sinnvoll, um androzentrischen Universalismus abzuwehren – und wo produzieren sie Ausschlüsse und verdeckte Vorschriften?
G.Fr.
Literatur
Bilden, Helga (Hrsg.). (1992). Das Frauentherapiehandbuch. München.
Burgard, R. (1988). Mut zur Wut. Berlin.
Chodorow, N. (1995). Das Erbe der Mütter. München.
Gilligan, C. (1985). Die andere Stimme. München/Zürich .
Mühlen-Achs, G. (1993). Wie Katz und Hund – die Körpersprache der Geschlechter. München.
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