Lexikon der Psychologie: Freizeitpsychologie
Essay
Freizeitpsychologie
Walter Tokarski
Freizeitpsychologie als Teil der Freizeitwissenschaft
Gegenstand der Freizeitwissenschaft ist die Analyse und theoretische Erklärung des Freizeitsystems in seinen vielfältigen Ausdifferenzierungen. Innerhalb dessen beschäftigt sich Freizeitpsychologie mit Motivationen, Einstellungen, Verhaltens- und Erlebensweisen sowie Lernvorgängen in der Freizeit und ist neben Freizeitpädagogik, -soziologie, -ökonomie, -philosophie, Geographie und Sozialgeschichte eine der wichtigen freizeitwissenschaftlichen Teildisziplinen. Sie hat in den letzten fast 50 Jahren, seit dem Freizeit sich als wissenschaftliches Betätigungsfeld etabliert hat, eine Fülle von Daten zu vielen Teilaspekten der Freizeit insbesondere zum Freizeitverhalten erarbeitet; zu den Freizeitmotivationen, Freizeitinteressen und zum Freizeiterleben gibt es deutlich weniger Erkenntnisse ( Abb. ).
Nachdem bis in die 80er Jahre hinein primär quantitative und repräsentative Studien im Zentrum der Betrachtung standen, sind in den letzten 15 Jahren zunehmend neue Erkenntnisbereiche erschlossen worden, die qualitativ untersucht werden: so etwa zielgruppenspezifisch die Bereiche Arbeitslosigkeit, Altersfreizeit, Jugendliche etc. oder aber sachspezifisch die Bereiche Umwelt, Neue Medien, Tourismus, Sport, Kultur und Unterhaltung. Die Betrachtung dieser Erkenntnisbereiche erfolgt in erster Linie problemorientiert, so z.B. unter den Stichworten Soziale Benachteiligung in der Freizeit, Freizeitrisiken, Freizeitstress, Zeitnot, Freizeit-Umwelt-Konflikt, Freizeit und Gesundheit, Urbane Freizeit, Zeitstrukturen, Freizeitstil-Management u.ä. Bei der Bearbeitung dieser Felder greift Freizeitpsychologie häufig auf existierende allgemeine psychologische Theorien zurück, genuine freizeitpsychologische Ansätze sind bisher nur wenige entwickelt worden; das Gleiche kann für das methodische Vorgehen konstatiert werden.
Determinantenkonzepte der Freizeit
Zu Beginn der systematischen Erforschung der Freizeit in den 50er und 60er Jahren wurde zumeist – quasi als der dahinter stehende Ansatz – davon ausgegangen, dass Freizeit durch eine Anzahl von spezifischen Variablen erklärbar sei. Solche sog. Determinantenkonzepte gingen zunächst davon aus, daß die Kenntnis von nur sehr wenigen Variablen – zumeist Soziodemographia – genüge um das Freizeitverhalten bestimmen und erklären zu können. Starke Determinationskraft sollten danach besitzen: Alter, Schulbildung und die Tatsache der Berufstätigkeit; mittlere Determinationskraft dagegen Geschlecht, Art des Berufs, Stellung im Lebenszyklus und Wohnort; und nur geringe Determinationskraft sollten Einkommen und Autobesitz haben. In den 70er Jahren wurden diese Konzepte um psychologische, physiologische und weitere soziale Determinanten erweitert, weiterhin wurde die bis dahin vorherrschende Konzentration auf das Freizeitverhalten aufgegeben und Freizeit als Einheit von Freizeitmotivation, -interessen, -verhalten und -erleben verstanden. Diese speziell in den USA und mit Einschränkungen auch in Deutschland zu beobachtende Entwicklung führte dazu, dass Freizeit in Abhängigkeit von der Arbeit, vom Freiheitsgrad, den die Arbeit dem Individuum gestattet, von der Motivation und von der Bedeutung einer Freizeitaktivität sowie von der Zielorientierung gesehen wurde.
Unter freizeitpsychologischer Perspektive sind letztlich persönlichkeits-, sozial- und entwicklungspsychologische Determinanten von Bedeutung. Persönlichkeitspsychologisch orientierte Ansätze benutzten dabei vornehmlich Korrelationsrechnungen unter Verwendung von Einzelvariablen oder aber Persönlichkeitsfragebögen (MMPI, EPSS, CPI oder FPI). Dabei stellte sich heraus, dass die Testintelligenz und die subjektive Sichtweise der invividuellen Situation eher Resultate erbrachte als die Verwendung von Persönlichkeitsfragebögen. Unter sozialpsychologischer Perspektive wurden vor allem Aspekte der Familien-, Berufs- und Wohnsituation sowie der sozialen Kontakte thematisiert. Dabei wurden in erster Linie die Rolle der familiären und beruflichen Sozialisation, die Freizeiteignung der Wohnung sowie des Wohnumfeldes und die Rolle von Beziehungsnetzen untersucht. Die entwicklungspsychologische Sichtweise der Freizeit ist nicht sehr weit ausgeprägt. Da das chronologische Alter keinen zuverlässigen Indikator entwicklungsbedingter Veränderungen in der Freizeit darstellt, wären für eine adäquate Erforschung solcher Veränderungen Längsschnittuntersuchungen erforderlich. Die bisher vorliegenden längsschnittlichen Studien zeigen eher konstante Verläufe der Freizeitbiographien, d.h. danach gäbe es keine großen Umstrukturierungen der individuellen Freizeit über das Leben bzw. größere Lebensabschnitte hinweg. Allerdings sind die meisten dieser Untersuchungen mehr als 20 Jahre alt und betrachten primär das Freizeitverhalten. Neuere Studien aus dem sport- und gerontopsychologischen Bereich (Sportpsychologie, Gerontopsychologie) belegen jedoch, dass sich die Freizeit bei Personen im mittleren und höheren Lebensalter im Vergleich zum jüngeren Lebensalter zunächst wenig, dann jedoch in größerem Ausmaß verändert, wobei Umweltveränderungen gesundheitlicher, sozialer, ökologischer, ökonomischer und/oder psychischer Natur von Bedeutung sind.
Theoretische Ansätze zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit
Neben den Determinantenkonzepten, die ebenso wie die sog. "negativen Freizeitdefinitionen" bereits die Bedeutung der Arbeit für die Freizeit hervorheben, spielen bis heute Ansätze zur Erklärung des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit immer wieder eine Rolle in der freizeitwissenschaftlichen Diskussion. Die bekanntesten Ansätze sind der Ventilansatz (Freizeit ist der Bereich, in dem überschüssige Energien abreagiert werden), der Erholungsansatz (Freizeit hat die zentrale Funktion der Erholung), der Katharsisansatz (Freizeit ist der Bereich, in dem die in der Arbeit unterdrückten Emotionen und psychischen Spannungen abreagiert werden), der Kompensationsansatz (Freizeit ist der Bereich, in dem die Mängel, Versagungen, Belastungen und Zwänge der Arbeit ausgeglichen werden), der Reduktionsansatz (Restriktionen in der Selbsterfahrung der Arbeit führen zu einer Verarmung der Freizeit), der Generalisierungsansatz (Freizeit ist der Bereich, in dem das in der Arbeit erworbene Verhaltensrepertoire reproduziert wird) und der Identitätsansatz (Arbeit ist der Bereich, in dem ein Individuum das tut, was es in der Freizeit auch tun würde). Letztlich lassen sich diese Ansätze auf drei übergreifende Theorieansätze reduzieren, die sich logisch aus diesen Ansätzen ergeben:
1) Wenn Freizeit deutlich im Gegensatz zur Arbeit steht, trifft die Kontrasttheorie zu, die sich z. B. in kompensatorischer oder rein regenerativer Freizeit äußern kann.
2) Wenn Ähnlichkeiten zwischen Freizeit und Arbeit auftreten, trifft die Kongruenztheorie zu, die sich z.B. in suspensiver Freizeit äußern kann.
3) Wenn keine unmittelbaren Zusammenhänge zwischen Freizeit und Arbeit bestehen, trifft die Neutralitätstheorie zu, Freizeit und Arbeit sind zwei unabhängige Lebensbereiche mit eigenen Qualitäten.
Empirisch sind diese Theorieansätze nur z.T. untersucht worden. Die scheinbare Plausibilität der Kontrasttheorie hat – ohne überzeugende empirische Belege zu liefern – dazu geführt, dass in der öffentlichen Diskussion die Polarisierung von Arbeit und Freizeit im Sinne von Kontrastbereichen bis heute fest geschrieben worden ist. Obwohl rollentheoretische Überlegungen bei den Freizeitdefinitionen durchaus aufgegriffen worden sind, sind diese für die Entwicklung von Freizeittheorien kaum weiter berücksichtigt worden. Ebenso sind die funktionale Analyse des Teilsystems Freizeit für das Gesamtsystem Gesellschaft sowie systemtheoretische Überlegungen bisher fragmentarisch geblieben. Handlungstheoretische Ansätze sind zwar in vielen Studien zu finden, sie sind jedoch nicht zu geschlossenen handlungstheoretischen Freizeitmodellen verarbeitet worden. Neuere Ansätze gehen seit Beginn der 80er Jahre näher auf den Zusammenhang von Freizeit und Lebensstil ein und sehen hierin eine Möglichkeit, die vielen Detailergebnisse der Freizeitforschung über Lebensstilkonzepte zu Freizeitstilen zusammenfügen zu können. Lebensstil wird dabei verstanden als thematisch strukturiertes Motivations-, Verhaltens- und Erlebensmuster zur Befriedigung von Bedürfnissen, zur Erfüllung von Aufgaben und zur Annäherung an oder Erreichung von Zielen. So plausibel die Verwendung des Lebensstilansatzes für die Erforschung des Freizeitbereichs ist, so schwierig ist jedoch seine Operationalisierung. Seit Beginn der 90er Jahre beschäftigt sich Freizeitwissenschaft – und hier insbesondere Freizeitpsychologie – mit Zeit als übergreifendem Phänomen, das Arbeit und Freizeit gleichermaßen umfasst. Dabei sind zwei Richtungen zu unterscheiden, die allerdings in gewisser Relation zueinander stehen: Zum einen steht das Zeitbewußtsein im Mittelpunkt der Analyse, zum anderen sind es die temporalen Muster von Individuen.
Ausblick
Freizeitpsychologie hat sich in den fast 50 Jahren ihrer Existenz von einem "theorielosen" Forschungsfeld zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt, die sowohl auf existierende allgemeine psychologische Theorien zurückgreift als auch – wenn auch in geringerem Maße – genuine freizeitpsychologische Ansätze entwickelt hat. Die gesellschaftlichen Entwicklungen fassen Arbeit und Freizeit zunehmend als Tätigkeiten auf, die im Gegensatz zu früher in einem neuen Verhältnis zueinander stehen. Die neueren Lebensstil- und Zeitstrukturansätze spiegeln diese Entwicklungen wider und haben gleichzeitig den Vorteil, dass sie als Transmittoren zu allgemeinen psychologischen Theorien wirken können.
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Freizeit (Hrsg.). (1998). Freizeit in Deutschland1998. Erkrath.
Dollase, R., Hammerich, K. & Tokarski, W. (1999). Temporale Muster. Die ideale Reihenfolge der Tätigkeiten. Opladen.
Opaschowski, H.W. /1973). Einführung in die Freizeitwissenschaft. Freizeit- und Tourismusstudien 2. Opladen.
Tokarski, W.und Schmitz-Scherzer, R. (1985). Freizeit. Studienskripten zur Soziologie 125. Stuttgart..
Tokarski, W. (1989). Freizeit und Lebensstile älterer Menschen. Kasseler Gerontologische Schriften 10. Kassel.
Tokarski, W. (Hrsg.). (1993). Freizeit im neuen Europa. Perspektiven in Wissenschaft, Freizeit und Politik. Edition Sport & Freizeit 1. Aachen.
Abb. Freizeitpsychologie. Freizeitwissenschaft als Spektrumswissenschaft.
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