Lexikon der Psychologie: Gemeindepsychologie
Essay
Gemeindepsychologie
Heiner Keupp
Selbstverständnis
Die Gemeindepsychologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Erleben und Handeln der Menschen in ihren spezifischen Lebenswelten zu untersuchen und sie bei einer produktiven Lebensbewältigung zu unterstützen. Damit versucht sie, die individualistischen Verkürzungen der Subjektperspektive in der vorherrschenden Psychologie zu überwinden. Sie erhebt den Anspruch, das Subjekt in Theorie und Praxis zu "rekommunalisieren", d.h. sein Erleben und Handeln in den realen soziokulturellen und materiellen Lebenskontext zu stellen.
Die Gemeindepsychologie versteht sich weniger als erkenntnistheoretische, sondern als eine praxisverändernde und letztlich als politisch-ideologische Kritik am psychologistischen Reduktionismus. Als sie sich in den 60er Jahren zunächst in den USA und in den 70er Jahren in Europa zu entfalten begann, reagierte sie mit radikaler Kritik an einer psychologischen Diagnostik und Praxis, die – Hand in Hand mit der traditionellen Psychiatrie – Menschen und ihre Befindlichkeit von ihren realen Existenzbedingungen abschnitten, psychobiologische Personfaktoren für psychosoziale Störungen kausal verantwortlich machten und sich professionell an der institutionellen Ausgrenzung dieser Personen beteiligten. Die Kritik am psychologischen Reduktionismus bezog sich damals zunehmend aber auch auf den entstehen-den Psychoboom, der aus einem expansiven Professionalisie-rungsschub von Psychologie und Psychotherapie entstand (Professionalisierung) und Ursachen menschlichen Erlebens und Handelns auf die psychische Innenwelt und Interventionen auf Verhaltensmodifikation reduzierte.
Ihre eigenständige Identität bezieht die Gemeindepsychologie daraus, daß sie den ökologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen subjektiver Phänomene besondere Aufmerksamkeit schenkt. Sie sieht ihr professionelles Aktionsfeld nicht ausschließlich auf der individuellen Ebene, sondern zielt auch auf Änderungen auf den unterschiedlichen soziokulturellen Kontextebenen ab. In dem – von Mehrdeutigkeiten nicht freien – Begriff der "Gemeinde" wird diese Schwerpunktsetzung deutlich. Hierunter ist der soziokulturelle, sozioökonomische und ökologische Lebenskontext in einem umfassenden Sinne gemeint – nicht nur die Gemeinde im Sinne einer lokal-administrativen Bezugsebene und auch nicht nur die Gemeinde im Sinne der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, obwohl beide Bedeutungsvarianten durchaus integriert sind. Aus Sicht der Gemeindepsychologie sind das psychosoziale Wohlbefinden und die verschiedenen Formen psychosozialen Leids das Ergebnis transaktionalen Zusammenwirkens von subjektiven Wünschen, Bedürfnissen und Ansprüchen eines Subjektes und den durch seine jeweiligen Lebensbedingungen gegebenen psychosozialen, sozialen und materiellen Ressourcen. Sie versucht, das psychosoziale Wohlbefinden zu verbessern und psychosoziales Leid zu mindern, indem sie Subjekte, Gruppen und Netzwerke dabei unterstützt, den Zugang zu Ressourcen zu verbessern, die für eine adäquate Auseinandersetzung mit alltäglichen Widersprüchen und Belastungen und für die Realisierung selbstbestimmter Lebenspläne erforderlich sind. Priorität haben Interventionen, die das Entstehen psychosozialer Belastungen und Leidenszustände verhindern sollen.
Bei ihrem konzeptuellen Vermittlungsversuch von subjektiven und objektiv-gesellschaftlichen Prozessen kann die Gemeindepsychologie aus der psychologischen Stammdisziplin nur unzureichende Hilfe erwarten. Wie verschiedene andere kritische Psychologieansätze bedarf sie einer engen Kooperation mit anderen Sozialwissenschaften. Wichtig sind vor allem die Anregungen der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus (v.a. Foucaults Geschichte des Wahnsinns und seine Theorie sozialer Kontrolle) und die institutionskritischen Analysen aus dem Bereich der Soziologie (z.B. Goffmans Untersuchungen zu "totalen Institutionen" oder die labelingtheoretischen Arbeiten von Scheff oder Becker). In der Gemeindepsychologie spiegeln sich in charakteristischer Weise soziokulturelle Umbrüche der Nachkriegsperiode, ihre Verarbeitung durch soziale Bewegungen und der Anspruch von Psychologen, sich daran zu beteteiligen.
Ausgangspunkt für die ersten gemeindepsychologischen Ansätze war, die inhumanen Zustände in den "totalen Institutionen" und die Beteiligung von Psychologen an der Herstellung und Aufrechterhaltung solcher Zustände anzuprangern. Als Alternative entstand eine kompensatorische Kampagne, die von einem anwaltschaftlichen Professionsmodell getragen wurde. Daraus entwickelte sich zunehmend die Haltung einer "Emanzipation des Subjekts", also die Befreiung von Menschen aus kollektiven oder institutionellen Zuschreibungen und Sonderbehandlungen. Obwohl die kompensatorischen und emanzipatorischen Positionen nach wie vor existieren und auch notwendig sind, geht es heute zunehmend um die Frage nach Kontexten, Gemeinden, Gemeinschaften oder sozialen Netzen, die verhindern sollen, daß einzelne Menschen herausfallen und "kontextfrei" werden.
Perspektiven
Stand also zunächst im Mittelpunkt der Gemeindepsychologie, gegenüber der Übermacht der Normalität das Recht auf Differenz zu erstreiten, geht es heute darum, soziale Anerkennung für diese Differenz zu erlangen. In diesem Entwicklungsprozeß sind auch die grundlegenden Perspektiven und Schwerpunktsetzungen der Gemeindepsychologie entwickelt worden. 1) Es wird bei psychischen Störungen nach den sozial ökologischen Ressourcen gefragt, die einer Person nicht in dem erforderlichen Umfang verfügbar sind, um eigene positive Lebensentwürfe zu verwirklichen. Notwendig ist die Einsicht, daß gesellschaftliche Fremdbestimmung, Enteignung von Alltagskompetenzen, die Zerstörung menschlicher Gestaltungsräume und die wachsenden ökologischen Risiken durch individuelle Bewältigungsstrategien letztlich nicht überwunden werden können und geeignete gesellschaftliche Strukturreformen erforderlich sind. 2) Die konkrete Gemeinde einer Person oder Gruppe bildet das Netzwerk (soziale Netzwerke), innerhalb dessen Identitäten verhandelt, konkrete Projekte realisiert, emotionale, soziale und materielle Unterstützung gegeben werden, aber auch soziale Kontrolle ausgeübt wird. Den "sense of community" bildet das, was eine Gemeinde zu einem positiven und förderlichen Lebenszusammenhang macht, in dem Zugehörigkeit, Vertrautheit und Solidarität erlebt werden. Das "Gefühl" und die Erfahrung in eine schützende, unterstützende oder ermutigende Lebenswelt eingebunden zu sein, ist ein zentraler salutogenetischer Faktor. 3) Wie psychosoziale Praxis Lebenswelten im Sinne dieser salutogenetischen Perspektive fördern kann, wird innerhalb des gemeindepsychologischen Diskurses mit dem Zielkonzept Empowerment verbunden. Professionelles Handeln muß dazu beitragen, daß Individuen, Gruppen oder Institutionen mehr Kompetenz zur Selbstgestaltung der eigenen Lebenswelten gewinnen können. 4) Der Empowermentgedanke und das Ziel der professionellen Förderung von Selbstorganisation wäre ohne eine Partizipation der Gemeindepsychologie an den vergangenen und aktuellen sozialen Bewegungen kaum so zentral geworden. Das waren in ihrer Startphase die Psychiatriereformbewegung, in den 60er Jahren kam die Bürgerrechtsbewegung mit ihrem Ziel der Chancengleichheit für alle Bürger, im weiteren die Selbsthilfebewegung und die bis heute wichtigste und folgenreichste soziale Bewegung, die Emanzipationsbewegung der Frauen (Feministische Psychologie, Geschlechterforschung). Sie hat nicht nur zu den lebendigsten Beispielen von Empowermentprozessen geführt, sondern auch zur Entwicklung frauenspezifischer Psychotherapieangebote, in denen ein zentrales Anliegen der Gemeindepsychologie realisiert wird: die Ausrichtung der professionellen Angebote an den spezifischen Problem- und Bedürfnislagen der jeweiligen Gruppe. 5) Es ist nicht blinder Aktionismus, der die Gemeindepsychologie zu jeder neuen sozialen Bewegung zieht. Es ist vielmehr Ausdruck ihres Grundanliegens, aktiv an der Verbesserung der sozialen Bedingungen individueller Lebensgestaltung zu arbeiten. Die sozialen Bewegungen sind am ehesten die Indikatoren für die gesellschaftlichen Bereiche, in denen von den Betroffenen am dringendsten Veränderungsnotwendigkeiten in den öffentlichen Raum getragen werden. 6) In den vielfältigen sozialen Bewegungen drücken sich auch tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse aus, die für die Subjekte selber und vor allem auch für die Psychologie die Entwicklung neuer Lebenskonzepte erfordern. Die gegenwärtige soziokulturelle Situation läßt sich als "hochambivalente Konfiguration" kennzeichnen: Eine radikale Enttraditionalisierung von Lebensformen schafft einerseits ein ungeahntes Potential an Selbstorganisation, auf der anderen Seite aber wachsen auch die Risiken des Scheiterns. Gesicherte Leitfäden der Lebensführung gibt es kaum mehr; Lebenssinn muß aktiv gesucht werden. Der einzelne löst sich zunehmend aus vorgegebenen Vergesellschaftungsmustern und muß sich sozial selbst verorten. Das scheint die "neue soziale Frage" zu sein und sie beschäftigt gegenwärtig viele Geister. In der Gemeindepsychologie hat die Reflexion über das neue Verhältnis von einzelnen Subjekten zu ihrer jeweiligen "Gemeinde" begonnen. 7) Die Gemeindepsychologie leitet ihre Handlungsprinzipien nicht aus Wissensformen ab, die die Forschung erarbeitet und die dann nach dem Modell des "Nürnberger Trichters" von der Praxis aufgenommen und umgesetzt werden müssen. Gute Gemeindepsychologie-Praxis und -Forschung setzen einen herrschaftsfreien Dialog zwischen beiden voraus. Erforderlich ist deshalb eine Fachkultur, in der die Bedingungen für diesen Dialog entstehen und gemeinsame Lernprozesse ermöglicht werden.
Ausblick
In der Krise moderner Gesellschaften stehen bisherige Werteprinzipien zur Disposition. Dazu gehört auch der soziale Konsens über Prinzipien sozialer Sicherung angesichts typischer Existenzrisiken. Die Diskussion und Praxis zur Entwicklung von Qualitätsstandards psychosozialer Praxis muß sich mit einer Wertediskussion für "gute Praxis" und mit der Formulierung politischer Optionen verknüpfen. Die Gemeindepsychologie bietet hierfür u.a. folgende Prinzipien an: Förderung und Unterstützung von a) "aufrechtem Gang" und Selbstbestimmung; b) gesellschaftlicher Chancengleichheit; c) Vielfalt von Lebensformen und das Recht auf Differenz; d) kommunitärem Netzwerken in Selbstorganisation; e) sozialer und materielle Grundsicherung; f) mehr finanziellen Gestaltungsspielräumen in der Praxis; g) partizipativen Formen der Politikgestaltung.
Die Gemeindepsychologen im deutschsprachigen Raum haben sich zunächst in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und in der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT), die die gemeindepsychologische Perspektive in ihre Satzung aufgenommen hat, organisiert. Seit Mitte der 80er Jahre treffen sie sich regelmäßig in einem eigenen Gesprächskreis. 1995 wurde dann die Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP) gegründet.
Literatur
Böhm, I., Faltermaier, T., Flick, U. & Krause Jakob, M. (Hrsg.). (1992). Gemeindepsychologisches Handeln: ein Werkstattbuch. Freiburg: Lambertus
Keupp, H. (1997). Ermutigung zum aufrechten Gang. Tübingen: DGVT-Verlag.
Keupp, H. & Rerrich, D. (Hrsg.) (1982). Psychosoziale Praxis – gemeindepsychologische Perspektiven. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München: Urban & Schwarzenberg.
Rappaport, J. (1985). Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 17, S. 257 – 278.
Röhrle, B. & Sommer, G. (Hrsg.). (1995). Gemeindepsychologie: Bestandsaufnahme und Perspektiven. Tübingen: DGVT-Verlag.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.