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Biodiversitätsindex: Artenschwund auf wackeliger Datenbasis

Der Living Planet Index soll ein Gradmesser für die globale Artenvielfalt sein. Das neueste Update zeigt einen erschreckenden Schwund an Wirbeltieren. Doch ein kritischer Blick auf die Zahlen offenbart ein komplexeres Bild.
Ein Koala sitzt verloren auf einer Straße und schaut in die Kamera. Auf der Straße sind verschiedene Bremsspuren erkennbar.
Der Koala gilt laut der internationalen Roten Liste als gefährdet – nicht erst seit den verheerenden australischen Buschbränden 2019/20, denen mehr als 60 000 der pelzigen Gesellen zum Opfer fielen.

Die Zahlen lesen sich verstörend: Ob in den Flüssen, in den Meeren oder an Land – überall verzeichnet der Living Planet Index, ein Indikator für die weltweite biologische Vielfalt, einen dramatischen Rückgang der Wirbeltierarten in den letzten 50 Jahren. In den Meeren: Rückgang um 56 Prozent. In Seen und Flüssen: Rückgang um 85 Prozent. An Land: Rückgang um 69 Prozent. Im globalen Durchschnitt betrage die Abnahme der Artenvielfalt erschreckende 73 Prozent.

»Es ist eine Bestandsaufnahme des Zustands der Erde, und das Ergebnis ist katastrophal«, sagt Freya Duncker von der Naturschutzorganisation WWF bei der Präsentation der neuen Zahlen. »Das Artensterben schreitet dramatisch voran. Wir nähern uns langsam ökologischen Kipppunkten.«

Mit dem Living Planet Index, kurz LPI, versuchen der WWF und die Zoological Society in London (ZSL) gemeinsam, die Entwicklung der Wirbeltierpopulationen weltweit zu überwachen: vom Elefanten über den Wal bis zum Aal. Der Index gilt als einer der wichtigsten Gradmesser der Artenvielfalt – und zeigt steil nach unten.

Aber was bedeuten diese Zahlen wirklich? Und kann man ihnen trauen?

Anders als Menschen und ihre Nutztiere werden Wildtiere nicht systematisch gezählt. Ihre Bestände zu erfassen, ist statistische Sisyphusarbeit. »Wir werten systematisch die wissenschaftliche Literatur aus«, sagt Louise McRae von der ZSL, die den Index mit betreut. »Wir haben ein Protokoll dafür, welche Daten wir aufnehmen: Sie müssen sich auf eine Art beziehen, mindestens zwei Jahre abdecken und mit konsistenten Methoden erhoben worden sein, damit sie vergleichbar sind.«

So entstand über Jahrzehnte eine gewaltige Datenbank von 5268 Wirbeltierarten, unterteilt in 38 427 Populationen, die in irgendeiner Weise beobachtet wurden oder werden.

Die Zahlen sind allerdings so verwirrend, dass selbst die WWF-Naturschutz-Chefin in der Pressekonferenz zum falschen Beispiel griff, als sie versuchte, den globalen 73-Prozent-Rückgang zu erklären: »Wenn man das übersetzt, sind von 100 Wirbeltieren eines beobachteten Bestands aus dem Jahr 1970 aktuell noch 27 Individuen übrig«, sagt sie. So ganz stimmt das aber nicht.

Keine Aussage über die Anzahl einzelner Tiere oder Arten

Der Index sagt nichts über die Anzahl individueller Tiere (oder Arten) aus. Er beschreibt, um wie viel Prozent die beobachteten Populationen im Schnitt zurückgegangen sind. Was das bedeutet, lässt sich mit einem Gedankenexperiment nachvollziehen: Angenommen, man zählt 100 Hirsche, die sich auf zwei Populationen verteilen. Die eine Population ist groß und stabil: Bei der ersten Zählung sind es 90 Tiere, bei der zweiten auch. Die Veränderung ist also 0 Prozent. Die zweite Population jedoch schrumpft von anfangs zehn Tieren auf eines, der Rückgang liegt also bei 90 Prozent. Für den Index wird nun der Durchschnitt von 0 und 90 gebildet, was einen Rückgang um 45 Prozent ergibt – obwohl immer noch 91 von 100 Tieren existieren. (So ganz stimmt allerdings auch das nicht, denn es wird nicht das arithmetische, sondern das geometrische Mittel verwendet, aber im Grunde lässt sich das Dilemma so beschreiben.)

Umgekehrt kann der Index Verluste verdecken. So überrascht zum Beispiel, dass der globale Index seit dem Jahr 2010 kaum noch sinkt: Der Rückgang bewegt sich nur noch im Rahmen der statistischen Unsicherheit. Die Zahl der in den Meeren lebenden Arten soll sogar wieder zugenommen haben – dank Fangquoten und verstärkten Schutzbemühungen, wie der WWF schreibt.

Haben wir das Artensterben also erfolgreich abgebremst? Was erklärt den Wendepunkt um das Jahr 2010?

»Wir müssen vorsichtig sein, dies als nachlassenden Druck auf die Natur zu interpretieren«, antwortet Andrew Terry von der ZSL darauf. »Wir haben es mit äußerst komplexen Datensätzen von Tausenden von Populationen zu tun, die alle auf lokaler Ebene unterschiedliche Auswirkungen erfahren, sowohl positive als auch negative.« Man solle daher nicht auf einen bestimmten Punkt auf der Kurve fokussieren und fragen, was dort passiert ist, sondern müsse auf den Trend insgesamt schauen. Und der zeigt in allen Teilen der Welt übereinstimmend abwärts.

Für manche Wissenschaftler ist das jedoch eine unbefriedigende Antwort – zumal der Index dafür verwendet werden soll, den Erfolg oder Misserfolg politischer Naturschutzmaßnahmen zu messen. Eine der Kritikerinnen ist Anna Tószögyová, Biologin an der Karls-Universität in Prag. »Die Zahlen waren irgendwann so verstörend, dass wir und andere Wissenschaftler entschieden haben, die globalen Trends mit eigenen Berechnungen zu überprüfen, aber auf Basis der gleichen Daten wie der LPI«, sagt sie. Im Juni 2024 veröffentlichte Tószögyová mit zwei Kollegen eine Studie im Fachmagazin »Nature Communications«, die auf mögliche Probleme bei der Berechnung des Index hinweist – mit Konsequenzen für die Trendverläufe.

Problem 1: Ältere Zählungen sind nicht immer zuverlässig

Problematisch sind zum einen die Daten selbst. Vor allem ältere Zählungen können sehr unzuverlässig oder gar politisch motiviert sein. Zu welch kuriosen Auswüchsen das führen kann, zeigte »Spektrum der Wissenschaft« jüngst am Beispiel von Elefanten in Afrika. Tószögyová illustriert das Problem anhand der Kreuzotter, einer Giftschlange aus Europa. Ihre Population soll in den 1970er Jahren innerhalb kurzer Zeit dramatisch eingebrochen sein. Oder waren damals einfach die Daten ungenau? Seither nahm die Zahl fast stetig zu. Trotzdem verbleibt die Kreuzotter im Index als Tierart mit großen Verlusten. »Eine anfängliche Abnahme des LPI ermöglicht typischerweise keine spätere Zunahme«, kritisieren die Prager Autoren.

Noch dazu wurde diese eine Population damals stellvertretend für alle Reptilienarten in der Region angeführt. Ihr Rückgang zog also den Index für die anderen dort gezählten Reptilien drastisch nach unten und verzerrte dadurch das Gesamtbild. Das sei eine weitere Fehlerquelle, sagt das tschechische Wissenschaftlerteam. Die Kollegen von der ZSL widersprechen dieser Kritik. »Wenn wir den LPI zusammenstellen, prüfen wir ihn auf Populationen, die übermäßig einflussreich sind. Wenn eine allein für einen bestimmten Trend verantwortlich ist, entfernen wir diese Population aus den Daten«, sagt Robin Freeman von der ZSL. Die Kreuzottern habe man bereits aus dem Index beseitigt. Es gebe aber auch nur rund 100 solcher Fälle unter zehntausenden Zahlenreihen.

Problem 2: Nullen mit unklarer Bedeutung

Der zweite Kritikpunkt der Gruppe um Tószögyová ist grundsätzlicher. Die LPI-Datenbank sei voller Nullen, also Datenlücken. »Die Nullen sind entweder ökologisch bedeutsam – etwa weil die Population dauerhaft oder vorübergehend verschwunden ist – oder es sind Stichprobenfehler, die durch eine sehr geringe Populationsdichte verursacht werden«, sagt Tószögyová.

Wie aber geht man mit diesen vieldeutigen Nullen um? Weil sie nicht eindeutig zu interpretieren sind, haben Tószögyová und ihre Kollegen die Datenlücken entfernt und nur mit den vorhandenen Daten gerechnet. Außerdem beschränkten sie sich auf Datenreihen mit mindestens fünf statt nur zwei Zählungen. Der Effekt war enorm: Der globale Rückgang halbierte sich beinahe. Bei den Arten an Land glichen sich Zunahme und Rückgang sogar aus. Im Süßwasser und in den Meeren waren die Unterschiede eher klein.

»Das bedeutet nicht, dass die Wirbeltierpopulationen nicht tatsächlich zurückgehen«, schreiben die Biologen aus Prag, aber die Entwicklung sei »durch komplexere Veränderungen gekennzeichnet als durch bloßes Verschwinden.«

Die Londoner allerdings können die Rechnung der Prager nicht nachvollziehen. So räumt McRae zwar ein, dass »das Problem mit den Nullen knifflig« sei. Man arbeite momentan daran, auf unterschiedliche Weise auf die Nullen zu schauen. Denn es gibt solche und solche Nullen, je nachdem, wo sie stehen: Inmitten einer Zeitreihe könnte eine Null eher bedeuten, dass Daten fehlen; am Ende einer Zeitreihe deuten sie möglicherweise auf das Verschwinden einer Art hin. »Wir arbeiten laufend daran«, sagt McRae.

Die ZSL hält die Lösung der Prager Kollegen nicht für besser. Denn unvollständige Daten mit vielen Nullen kämen eher bei Reptilien oder Amphibien vor und stammten eher aus den Tropen – wo auch der Artenschwund größer sei. »Wenn die Datenlücken an Orten mit stärkerem Rückgang auftreten, die schwieriger zu überwachen sind, fühlt es sich seltsam an, sie auszuschließen«, erläutert Freeman.

Fachdiskussion mit politischer Sprengkraft

In welche Richtung der Index zeigt, hängt also offenbar einfach davon ab, wie man in London oder Prag Nullen aus dem Dschungel interpretiert.

Man könnte nun abschließend sagen: akademische Fachdiskussion, Haken dran, weitermachen. Aber so einfach ist es nicht, denn der WWF verfolgt mit dem LPI auch politische Ziele. »Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das, was in den nächsten fünf Jahren bis 2030 passiert, die Zukunft des Lebens auf der Erde bestimmen wird«, sagt die WWF-Generaldirektorin Kirstin Schuijt bei der Präsentation der Zahlen. Der Fokus auf die kommenden fünf Jahre hat allerdings wenig mit dem LPI, dafür aber viel mit globaler Politik zu tun: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz gestellt werden, so lautet das Ziel der Vereinten Nationen. Aktuell ist nur halb so viel Landfläche offiziell geschützt.

Der LPI soll daher nicht nur ein zentraler Indikator für die Artenvielfalt werden, wenn sich die Weltgemeinschaft Ende Oktober 2024 in Cali in Kolumbien zum Biodiversitätsgipfel trifft. Aus den LPI-Daten wird ebenso abgeleitet, was den Schwund der Tiere in verschiedenen Weltregionen verursacht hat: Meist geht es um die Zerstörung von Lebensräumen und ihre Übernutzung, in kleinerem Maß sind Klimawandel, Umweltverschmutzung, invasive Arten und Krankheiten dafür verantwortlich.

So steckt in den Daten immer auch eine Schuldzuweisung, wer welchen Lebensraum zerstört hat und ihn der Natur wieder überlassen sollte. Eine Null in den Daten kann daher durchaus politische Konsequenzen haben.

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  • Quellen

Toszogyova, A. et al.: Mathematical biases in the calculation of the Living Planet Index lead to overestimation of vertebrate population decline. Nature Communications 15, 2024

WWF: Living Planet Report 2024 – a system in peril. WWF, 2024

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