Metzler Lexikon Philosophie: Kritik
(griech. kritike (techne): Kunst der Beurteilung), stellt in der Philosophie eine Methode dar, Wahrheitsansprüche mittels Vernunft auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen. Ziel der K. ist hierbei die Destruktion unbegründeter und Konstruktion begründeter Orientierungen des Denkens und Handelns. Als Grundbegriff einer an den Ideen des methodischen Denkens und der Aufklärung orientierten Philosophie wurde K. als Terminus aus der ramistischen und cartesianischen Logik (Cartesianismus) im 17. Jh. in die europäischen Nationalsprachen übernommen. Schon bei Platon und Aristoteles bezeichnet K. die Urteilskraft und das Unterscheidungsvermögen, das den umfassend Gebildeten charakterisiert. Als historisch früheste Form einer philosophischen K. ist die sokratische Mäeutik anzusehen, die Platon als Kunst beschreibt, Wahres von Falschem zu unterscheiden (diakritike techne). Bayles Dictionnaire historique et critique (Ende 17. Jh.) repräsentierte den enzyklopädischen Versuch eines systematischen kritischen Neuaufbaus des Wissens der damaligen Zeit, der prägend war für das Kritikverständnis bis zum Neuansatz Kants. Letzterer verstand unter K. kein System, keine Doktrin sondern deren Propädeutik durch Analyse der Leistungsfähigkeit und Grenzen des Vernunftvermögens. Die meisten modernen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Kritikbegriffe (z.B. der Kritischen Theorie, des Kritischen Rationalismus, der konstruktiven Wissenschaftstheorie (Konstruktivismus) der Erlanger Schule) schließen an Kants Konzeption einer philosophischen K. an, obwohl sie in grundlegenden Methodenfragen kontroverse, auch von Kant abweichende Standpunkte einnehmen.
Literatur:
- H. Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968
- K. v. Bormann: Kritik. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 3. München 1973
- M. Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (1937). In: Kritische Theorie. Bd. II. Frankfurt 1968
- J. Mittelstraß: Art. »Kritik«. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2
- R. Koselleck: Kritik und Krise. Freiburg 1959
- K. Röttgers: Kritik und Praxis. Berlin/New York 1975.
TH
Unterschwellig leitend für die modernen Debatten zum Kritikbegriff ist die Unterscheidung von kritischreflexiver zu theoretisch-gegenstandsorientierter Einstellung. Wie Hegel in seiner K. an Kants transzendentaler Erkenntniskritik deutlich gemacht hat, bleibt eine Selbstkritik der Vernunft letztlich unkritisch – nämlich Theorie –, wenn sie die Voraussetzungen der eigenen Vernunftkritik unthematisiert lässt. Was im unthematischen Hintergrund der Erkenntniskritik liegt und die Praxis der K. trägt – etwa der »objektive Geist« (Hegel), die geschichtlich-kulturellen Rahmenbedingungen, das lebensweltlich eingespielte Vorverständnis (Lebenswelt), die sozio-ökonomischen Verhältnisse, die Lebensformen und Sprachspiele –, wird im 19. und 20. Jh. zum Gegenstand der (marxistischen) Ideologiekritik (Ideologie), der geschichts- bzw. seinshermeneutischen Kritik (Heidegger, Gadamer), der Wissenschaftskritik (Kuhn, Feyerabend), insbesondere verschiedener Formen der sprachphilosophischen Sinnkritik. Mit dem Übergang von der Bewusstseinsphilosophie zur Sprachphilosophie (Sprachphilosophie, analytische) verlagert sich das Gewicht der philosophischen Kritik von der Erkenntniskritik auf die K. von Sinn und Bedeutung sprachlicher Ausdrucksformen. Die zunächst an der Klärung von Syntax und Semantik der Wissenschaftssprache orientierte Sprachkritik (Frege, Russell, Wittgenstein, Logischer Empirismus) versucht die Sätze der Metaphysik als sinnlose Scheinsätze zu entlarven, indem sie diese mit Sinnkriterien konfrontiert. Das positive Ziel dieser sinnkritischen Methode, der Aufbau einer allgemeinverbindlichen Wissenschaftssprache, wird in der Philosophie der normalen Sprache selbst einer Sinnkritik unterzogen. Ihre Einsicht in die Kontextabhängigkeit (Kontext, Kontextualismus) sprachlicher Bedeutungen führt zu einer sprachpragmatischen K. (Pragmatik) der Theoriesprache durch deren Zurückführung auf umgangssprachliche Verwendungszusammenhänge. Exemplarisch hierfür steht – neben Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen – G. Ryle’s Sinnkritik der mentalistischen Theoriesprache durch den Nachweis von Kategorienfehlern. Im Zusammenhang der sprachanalytischen Debatte um Transzendentale Argumente ist vor allem Strawsons sinnkritische Erneuerung der Kantischen Erkenntniskritik einflussreich geworden. Strawsons transzendentale Sinnkritik steht im Kontrast zu den relativistisch-vernunftskeptischen Tendenzen der nach-wittgensteinianischen Sprachspielpragmatik. Gegen den epistemischen Skeptizismus wird eingewandt, dass er notwendige Sinngrenzen einer für uns überhaupt verständlichen Erfahrung verletzt. Noch fundamentaler setzt die transzendentale bzw. rekonstruktive Sinnkritik der Transzendentalpragmatik und der Universalpragmatik (J. Habermas) an. Mittels des Sinnkriteriums der pragmatischen Konsistenz konfrontiert sie Relativisten und Skeptiker ebenso wie Metaphysiker mit den Sinngrenzen einer für uns überhaupt verständlichen Konzeption von Argumentation. Hier schlägt die theoretische Einstellung vollständig in die reflexiv-kritische Einstellung um. Vernunftkritik (z.B. K. der instrumentellen Vernunft), Gesellschaftskritik, Ideologiekritik, geschichtshermeneutische K., Sprachkritik müssen nicht in Aporetik enden, sondern können die Sinn- und Geltungsbasis ihrer Argumentation freilegen, indem sie sich reflexiv der Bedingungen der Möglichkeit argumentativer K. vergewissern.
Literatur:
- H. Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968
- K. v. Bormann: Kritik. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 3. München 1973
- M. Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (1937). In: Kritische Theorie. Bd. II. Frankfurt 1968
- J. Mittelstraß: Art. »Kritik«. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2
- R. Koselleck: Kritik und Krise. Freiburg 1959
- K. Röttgers: Kritik und Praxis. Berlin/New York 1975.
HGR/JPB
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