Metzler Lexikon Philosophie: Vernunft
(griech. nous, logos, dianoia; lat. intellectus, ratio), etymologisch von »vernehmen« abgeleitet, hatte V. im ältesten Deutschen die Bedeutung von »richtig auffassen« sowie von »Überlegung« als dem Vermögen, das Aufgefasste im Geiste zu verarbeiten. Die antiken Griechen grenzten den Logos als objektive Kosmos-V., die zu klarer Einsicht in die ewigen und unveränderlichen Seinsstrukturen befähigt, sowohl vom Mythos als auch von der Aisthesis (sinnliche Wahrnehmung) ab. Im MA. wurde V. als Vermögen übersinnlicher Erkenntnis (intellectus) vom diskursiven, schlussfolgernden Denken (ratio) unterschieden. Seit der auf Eckhart und Luther zurückgehenden Übersetzungstradition von ratio wurde V. gewöhnlich mit dem im Gegensatz zu Verstand (intellectus) stehenden niederen Erkenntnisorgan identifiziert, das Sinneswahrnehmungen unter Begriffe bringt. Kant legt den philosophischen Gebrauch endgültig fest, indem er V. (ratio) dem diskursiven Verstand als das »Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien« überordnet.
Charakteristisch für die Begriffsgeschichte von V. in der abendländischen Philosophie ist das Gegensatzpaar von intuitiver und diskursiver V.-Erkenntnis. Seine Wurzeln liegen in der antiken Philosophie. Platon unterscheidet die intellektuelle Anschauung (noesis), die mittels des Nous, dem »Auge des Geistes«, die erfahrungstranszendenten Ideen erschaut, von der dianoia, die durch methodisches, begriffliches Denken zur Ideenerkenntnis aufsteigt. Indem Platon diese Bestimmungen als Formen der theoria (geistige Schau der Ideen) versteht, und diese wiederum dem dialogischen Denken überordnet, etabliert er ein solipsistisches V.-Verständnis. Obwohl bei Aristoteles der ursprüngliche Gebrauch von logos in der Doppelbedeutung von Rede und Denken festgehalten ist, verfestigt sich hier die Auffassung einer sprach- und kommunikationsunabhängigen V. dadurch, dass von einer bloß konventionellen, für wahre Erkenntnis daher vermeintlich irrelevanten, Zuordnung der sprachlichen Zeichen zu den Gedanken ausgegangen wird.
Die antike Vernachlässigung der Redefunktion und die einseitige Hervorhebung der logisch-semantischen Dimension des Denkens, von Apel als »Logosvergessenheit« charakterisiert, prägt die V.-Auffassung bis in die Gegenwart. Paradigmatisch für die mittelalterliche Wirkungsgeschichte der aristotelischen V.-Konzeption steht Thomas von Aquin. Mittels ratio (schlussfolgerndem Denken) sollen Urteile auf Grundeinsichten zurückgeführt bzw. aus Grundeinsichten abgeleitet werden können, die durch cognitio intellectualis (V.) intuitiv erfasst werden. – Die Vorstellung eines einsamen, von der öffentlichen Kommunikation enthobenen Denkens wird in der Bewusstseinsphilosophie (von Descartes bis Husserl) radikalisierend fortgetragen. Sie liegt auch Kants »Aufhebung« der überlieferten spekulativen Vorstellung einer durch unausweisbare Intuition und darauf aufbauender Deduktion bestimmten V. zugrunde. Kant betont den reflexiven Charakter der V., die sich in Form einer Kritik der reinen (theoretischen und praktischen) V. über die Bedingungen objektiver Erkenntnis und deren Grenzen Rechenschaft ablegen können müsse. Dies führt Kant zu einer Theorie der Verstandeserkenntnis, die nicht über den Bereich der Gegenstände möglicher Erfahrung hinausgehen dürfe. Der konstitutiven Erkenntnisfunktion des Verstandes sei hinsichtlich des erfahrungstranszendenten Bereichs eine lediglich regulative Funktion der V. zur Seite zu stellen, die Verstandeshandlungen auf die Einheit eines obersten intelligiblen Zweckes beziehe.
Die »Vergesellschaftung« der bei Kant noch gänzlich subjektiv auf die Einheit eines Selbstbewusstseins bezogenen V. kündigt sich im objektiven Idealismus Hegels an, der die Abhängigkeit der subjektiven V. von der sich in gesellschaftlichen Institutionen veräußernden, objektiven V. hervorhebt. Nachdem Herder und vor allem W. v. Humboldt auf die Sprachlichkeit der V. hingewiesen hatten, Wittgenstein die konstitutive Funktion einer intersubjektiv geteilten Umgangssprache für das Denken erwiesen hatte, explizierte schließlich die Universal- und Transzendentalpragmatik (Habermas, Apel) in Anknüpfung an Peirces Pragmatismus V. als Inbegriff von Argumentation bzw. Diskurs. Sie gewinnt damit das dialogisch-pragmatische Moment von V. zurück, das im Logos-Grundsatz des Sokrates (Kriton, 46 b), der den Anspruch auf dialogische Geltungsprüfung formulierte, implizit schon enthalten war. Durch das zweifache Sprach- und Kommunikationsapriori allen Denkens sei sowohl der intersubjektive Sinnanspruch der V. (durch Bezugnahme auf die reale Kommunikationsgemeinschaft) als auch ihr intersubjektiver Geltungsanspruch (Bezugnahme auf die regulative Idee eines idealen Konsenses der idealen Argumentationsgemeinschaft) gesichert. Durch diese V.-Konzeption kann der modernen Einsicht in die geschichtliche und kulturelle Relativität der V. ebenso Rechnung getragen werden wie dem unverzichtbaren Anspruch der V. auf universelle Geltung. Von einer Rekonstruktion der in jeder Äußerung notwendig erhobenen Geltungsansprüche (Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) ausgehend, entwirft die Transzendentalpragmatik eine Theorie der Rationalitätstypen (praktische und theoretische V.; kommunikative, strategische, instrumentelle Rationalität), die Differenzierungen in den V.-Begriff einzuführen vermag, mit denen einer auf Kritik der instrumentellen V. zurückgehenden prinzipiellen V.-Skepsis entgegengetreten werden kann.
Literatur:
- U. Anacker: Art. Vernunft. In: H. Krings u. a. (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München 1974. Bd. 6. S. 1597–1612
- K.-O. Apel: Die Herausforderung der totalen Vernunftkritik und das Programm einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen. In: Concordia 11 (1987). S. 2–23
- A. Berlich/D. Böhler: Art. Vernunft. In: Th. Meyer u. a. (Hg.): Lexikon des Sozialismus. Köln 1986. S. 696 ff
- D. Böhler/H. Gronke: Art. Diskurs. In: G. Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen 1994. Sp. 764–819
- H. Schnädelbach (Hg.): Rationalität. Frankfurt 1984
- Ders.: Vernunft. In: E. Martens/H. Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 1. Reinbek 1991. S. 77–115
- Ders.: Vernunft und Geschichte. Frankfurt 1987.
HGR
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.