Lexikon der Biochemie: Gifte
Gifte, Verbindungen, die den menschlichen und tierischen Organismus schädigen können. Die Einordnung einer Substanz als Gift ist von der Dosierung abhängig, da bei entsprechend hoher Dosierung nahezu jede Substanz toxisch ist. Die Giftwirkung ist außerdem von der Applikationsart, der Einwirkungsdauer und anderen Faktoren abhängig. Zahlreiche G. vor allem pflanzlicher Herkunft werden bei selektiver Wirkung in entsprechender Dosierung als Arzneistoffe eingesetzt.
Der Umgang mit G. wird gesetzlich durch die Gefahrstoffverordnung, die Chemikalien-Verbotsverordnung, das Chemikaliengesetz und das Arzneimittelgesetz geregelt. Nach der Gefahrstoffverordnung werden Stoffe, von denen eine Vergiftungsgefahr ausgeht, aufgrund ihrer mittleren letalen Dosis (LD50 der Ratte nach oraler Applikation) in gesundheitsschädliche (LD50, 200-2.000 mg/kg Körpergewicht), giftige (LD50 25-200 mg/kg) und sehr giftige (LD50 <25mg/kg) Stoffe eingeteilt (Tab. 1).
Die Vergiftungen können durch Verschlucken, Einatmen oder Hautkontakt erfolgen. Dabei kann es sich um eine akute oder chronische Toxizität handeln. Veränderungen an der Desoxyribonucleinsäure führt zur Genotoxizität, was Mutagenität und/oder Cancerogenese (Carcinogene) auslösen kann.
Wichtigste organotrope toxische Effekte betreffen Leber (Hepatotoxizität), Niere (Nephrotoxizität), Haut (Kontaktallergien, Phototoxizität), Embryo (Embryotoxizität, Teratogenität), Nervensystem (Neurotoxizität), das blutbildende System oder den Gastrointestinal-Trakt. Eine besondere Gruppe von G. stellen die Betäubungsmittel dar. Schwerwiegende Zellschädigungen (Cytotoxizität) betreffen vor allem proliferierende Zellen. Unmittelbar am Sauerstofftransport greifen Methämoglobin-bildende Stoffe (Nitrite, aromatische Nitro- und Aminoverbindungen, Redoxfarbstoffe) an. Toxisch auf die Lunge wirken Atemgifte (z. B. Kohlenmonoxid, Cyanwasserstoff, Schwefelwasserstoff) und Lungenreizstoffe (z. B. Stickstoffoxide, Fluor, Phosgen, Schwefeldioxid, Formaldehyd). Zu den anorganischen G. gehören ferner Arsen-, Selen- und Tellurverbindungen, Cyanide und Fluoride, Phosphor und Phosphide, Chromate, Quecksilberverbindungen sowie zahlreiche Schwermetallsalze. Zu Art und Mechanismus der Schädigungen siehe Tab. 2. Sehr stark toxisch wirkende synthetische Verbindungen wurden als chemische Kampfstoffe entwickelt (z. B. aktivierte organische Phosphorsäureester, Loste). Ein besonderes toxikologisches Problem stellen Pestizide (Insektizide, Herbizide) sowie Dioxine (insbesondere2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-1,4-dioxin) dar.
Biogene G. (Toxine) werden von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren gebildet.
Von den Mikroorganismen sind es vor allem Bakterien, niedere Pilze und Dinoflagellaten, die Toxine produzieren. Die Bakterientoxine werden in Endo- und Exotoxine eingeteilt. Die Endotoxine, bei denen es sich um Lipopolysaccharide der äußeren Zellwand gramnegativer Bakterien handelt, wirken erst toxisch nach Autolyse der Bakterien. Exotoxine werden dagegen von den Bakterien in die Umgebung abgegeben. Es sind die stärksten bisher bekannten Gifte.
G. niederer Pilze werden als Mycotoxine, G. höherer Pilze als Pilzgifte bezeichnet. Mycotoxine sind wegen möglicher Kontamination von Lebensmitteln von Bedeutung. Von besonderem toxikologischen Interesse sind die Aflatoxine, die von verschiedenen Aspergillus-Stämmen auf verdorbenen Lebensmitteln gebildet werden und sehr stark hepatotoxisch und cancerogen wirken. Die Trichothecene werden von Fusarium-Arten gebildet und gehören zu den Sesquiterpenen. Durch kontaminiertes Getreide kann es zur Leukopenie kommen. Indol-Alkaloide vom Ergolin-Typ (Mutterkorn-Alkaloide) kommen im Mutterkorn (Secale cornutum) vor. Zu den giftigen Großpilzen gehören der Knollenblätterpilz (Amanita phalloides mit den Amatoxinen und Phallotoxinen), der Fliegenpilz (Amanita muscaria mit Muscarin und den 3-Hydroxyisoxazolen Ibotensäure, Muscimol und Muscazon, die auch im Pantherpilz, Amanita pantherina, vorkommen) und die Frühjahrsmorchel (Gyromitra esculenta mit Acetaldehyd-N-methyl-N-formylhydrazon). Muscarin wirkt als Neurotoxin, die Amatoxine und Monomethylhydrazin parenchymtoxisch (leber- und nierenschädigend). Sehr stark hepatotoxisch wirken die Phallotoxine. Einige Pilze besitzen eine psychotrope Wirkung und werden als Rauschstoffe (Halluzinogene) eingesetzt. Psychotrop wirken die erwärmten Isoxazole sowie Psilocybin, Psilocin und weitere Tryptaminderivate aus mexikanischen Pilzen der Gattung Psilocybe.
Zu den besonders stark wirkenden Inhaltsstoffen der Gift- und Arzneipflanzen gehören zahlreiche Alkaloide (z. B. Strychnin, Curare-Alkaloide) und Glycoside (cyanogene Glycoside, herzwirksame Glycoside). Ausgesprochene Giftpflanzen sind die Tollkirsche (Atropin), der gefleckte Schierling (Coniin) oder die Herbstzeitlose (Colchicin). Als Cancerogene können Pyrrolizidin-Alkaloide wirken.
Tierische G. werden von Spinnen (u. a. das Toxin der Schwarzen Witwe, Latrodectus trecimguttatus), Insekten (Bienengift, Wespengift), Skorpionen (Skorpiongifte, Serotonin, Polypeptide), Schlangen (Schlangengifte, Polypeptide, die als Neuro- und Cardiotoxine wirken), Amphibien (das Batrachotoxin, ein Steroidalkaloid des kolumbianischen Pfeilgiftfrosches Phyllobates aurotaenia; das Samandarin des Feuersalamanders Salamandra salamandra oder das Bufotenin der Erdkröte Bufo bufo, Histrionicotoxin, ein Piperidinalkaloid des kolumbianischen Frosches Dendvobates histrionicus), Fischen (Tetrodotoxin) gebildet. Zahlreiche Gifte von Tieren (z. B. von Schlangen und Skorpionen) und Pflanzen greifen am Nervensystem an. Diese Neurotoxine reagieren selektiv mit Ionenkanälen, Neurotransmitter-Rezeptoren oder Proteinen der präsynaptischen Neurotransmitter-Ausschüttung und sind deshalb wichtige Werkzeuge der Neurobiochemie. An spannungsabhängigen Natriumkanälen greifen u. a. Tetrodotoxin, Histrionicotoxin, Saxotoxin (heterozyklisches Guanidin aus den Dinoflagellaten Conyaulax, die auch in Muscheln vorkommen können), Batrachotoxin, Aconitin, Veratridin (Steroidalkaloid), die Seeanemonentoxine (Polypeptide), Skorpiongifte, Pyrethrine, Brevetoxin an; an spannungsabhängigen Kaliumkanälen Noxiustoxin (Skorpiongift). Von den Neurotransmitter-Rezeptoren werden Glycin-Rezeptoren durch Strychnin, nicotinartige Acetylcholin-Rezeptoren durch Peptidtoxine aus Schlangen (α-Bungarotoxin aus Bungarus multicinctus, Peptidtoxine aus Kobras und Seeschlangen), aber auch durch pflanzliche Alkaloide wie Atropin, Nicotin, Muscarin oder die Curare-Alkaloide als wesentliche Bestandteile der amerikanischen Pfeilgifte (D-Tubocurarin, Calebassen-Curare) blockiert. An der präsynaptischen Neurotransmitter-Freisetzung greifen etliche Proteine, so Schlangentoxine, das Toxin der Spinne Schwarze Witwe oder die Clostridientoxine (Botulinus-, Tetanustoxin) an.
Vergiftungen beim Menschen treten vor allem in Verbindung mit Suizidversuchen und im Kindesalter auf und betreffen insbesondere Arzneistoffe (Benzodiazepine, Neuroleptika, Analgetika, Betablocker), insektizide Organophosphate, Geschirrspülmittel, Nagellackentferner, Möbelreiniger, Petroleum und organische Lösungsmittel.
Die Notfalltherapie wird heute möglichst kausal durchgeführt, wobei spezifisch nach Giftgruppen (Nr. 1-24) therapiert wird. Solche Giftgruppen sind u. a. Ätzmittel, Reizstoffe, Metalle, Tenside sowie Anticholinergika, Krampfgifte, Methämoglobinbildner, Herzgifte, Nierengifte, Nervengifte, Lebergifte, blutbildschädigende, fruchtschädigende, erbgutverändernde, krebserzeugende oder sensibilisierende Stoffe. Für einige Gifte stehen spezifische Antidote zur Verfügung, so Chelatbildner (z. B. Dimercaprol, Ethylendiamintetraacetat, D-Penicillamin) bei Schwermetallvergiftungen oder Atropin und Oxime (Pralidoxim, Obidoxim) bei Vergiftungen durch Phosphorsäureester. Bei Vergiftungen durch Cyanide werden 4-Dimethylaminopyridin (DMAP) und Thiosulfat gegeben.
Tab. 1. Gifte. Mittlere letale Dosis einiger Substanzen.
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Botulinustoxin | 0,00003 | |
Tetanustoxin | 0,0001 | |
Palytoxin | 0,01 | |
Diphtherietoxin | 0,3 | |
Cobratoxin | 0,3 | |
Batrachotoxin | 2 | |
Tetrodotoxin | 8 | |
Aflatoxin B1 | 10 | |
Maitotoxin | 50 | |
Digitoxin | 180 | |
Seeanemonentoxin ATXII | 300 | |
Tubocurarin | 500 | |
Strychnin | 500 | |
Atropin | 750 | |
Nicotin | 1.000 | |
HgCl2 | 1.000 | |
Muscarin | 1.100 | |
Pumiliotoxin A | 2.500 | |
Diisopropylfluorophosphat (DFP) | 5.000 | |
NaCN | 6.440 | |
As2O3 | 14.500 | |
Phenobarbital | 100.000 |
Tab. 2. Gifte. Einige Gifte und ihre Wirkung im Organismus.
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1. Gifte, die die Sauerstoffversorgung des Organismus behindern | ||||
Methämoglobinbildner | Oxidationsmittel: Chlorat, Perchlorat, gekoppelte Oxidation: Nitrit, Nitrat, nitrose Gase indirekte Met-Hb-Bildner: arom. Nitro- u. Aminoverb. | direkte oder indirekte Oxidation des Fe2+ im Hämoglobin (Hb) zu Methämoglobin (Met-Hb) "Blausucht", Ersticken | Redoxfarbstoffe (Methylenblau, Thionin) | |
Hämoglobinblocker | CO | Verdrängung des O2 von Hb: Kopfschmerz, Übelkeit, Kreislauf-Kollaps, Cheyne-Stokessche Atmung | Frischluft, Beatmung, O2-Maske | |
Atemgifte | Cyanid, Sulfid | Blockade der Atmungsenzyme (Cytochrom-Oxidase), Erbrechen, Atemlähmung | Thiosulfat (Entgiftung des CN- zu CNS-) evtl. Co-Verb. (Komplexierung des CN-) | |
2. Gifte, die zu Proteindenaturierungen führen | ||||
Lungenreizstoffe | Stickstoffoxide, SO2, Formaldehyd, Diisocyanate, Halogene, Halogenwasserstoffe, Phosgen | Schädigung der Alveolarstrukturen, Lungenödem | Ruhigstellung, Glucocorticoid-Aerosole | |
starke Säuren und Basen | Zerstörung von Strukturen | Wasserspülungen | ||
Schwermetalle | Bindung an Liganden (SH, OH, NH2, COOH, Imidazol) | Komplexbildner (Dimercaprol, EDTA, D-Penicillamin). Ni: Dithiocarb. Fe: Deferomaxin | ||
Pb | chronisch: "Bleiblässe" (Hemmung der Hämoglobin-Synthese), Kolik, Lähmungen, Bleisaum der Gingiva | |||
Hg | Gastroenteritis, Stomatitis, Nieren-ZNS-Schädigung | |||
As | Bindung an SH-Gruppen, "Kapillargift": Blutdruckabfall, Neuritis | |||
Th | Übelkeit, Erbrechen, Polyneuropathie, Haarausfall | |||
Ni | Dermatitis, "Nickelkrätze" | |||
Cd | Gefahr der Akkumulation, Degeneration der Schleimhaut, Nierenschäden, Knochendefekte | |||
3. Gifte, die an biologischen Membranen angreifen | ||||
org. Lösungsmittel | Alkohole; arom., halogenierte Kohlenwasserstoffe | Anreicherung in Lipiddepots, lähmende, erregende Wirkung, organspezif. Schäden (Leber, Niere, Blut) | Giftelimination, Beatmung, künstl. Niere | |
oberflächenaktive Verb. | Invertseifen, Seifen | Solubilisierung von Proteinen, Zerstörung der Membranstruktur, Hämolyse | Giftentfernung (Magenspülung), Aktivkohle | |
Nervengifte (Neurotoxine) | Insektizide (Pyrethroide, chlorierte zykl. Kohlenwasserstoffe: DDT, Dieldrin) Pflanzengifte: Nicotin, Coniin, Aconitin, Strychnin, Curare-Alkaloide; Schlangen-, Spinnen-, Bienen-, Skorpiongifte; Gifte von Meeresorganismen (Polyether); Bakterientoxine: Tetanus-, Botulinustoxin | Beeinflussung des transmembranären Ionentransports: Übererregung, Lähmungen | symptomatische Behandlung, Giftentfernung (Magenspülung), Beatmung, bei proteinartigen Giften Antiseren | |
4.Hemmer der Acetylcholin-Esterase | ||||
org. Phosphorsäureester | Parathion, Paraoxon, Dichlorvos, Dimethoat | Erhöhung der Acetylcholin-Konzentration: Miosis, Speichelfluss, Atemstörungen, Blutdrucksenkung, Krämpfe, Atemlähmung | Parasympatholytika: Atropin, bei org. Phosphorsäureestern Oxime (Pralidoxim, Obidoxim) | |
Carbamate | Physostigmin | |||
5. Gifte, die an Nucleinsäuren angreifen | ||||
Alkylanzien | Loste, Diazomethan, Dimethylsulfat, Pyrrolizidin-Alkaloide, Aflatoxine | Alkylierung von Nucleinsäurebasen, Quervernetzung der Stränge; Loste: genotoxische mutagene, cancerogene, embryotoxische Effekte | Prävention | |
Krebs-Promotoren | polyhalogenierte arom. Kohlenwasserstoffe: Dioxine (TCDD), polychlor., polybrom. Diphenyle (PCBs, PBBs) | cancerogene, teratogene Wirkungen | Prävention | |
Gifte der Knollenblätterpilze | Hemmung der Nucleinsäuresynthese |
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