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Lexikon der Neurowissenschaft: Heuschrecken-Nervensystem

Heuschrecken-Nervensystem,E grasshopper nervous system, das Nervensystem der Heuschrecken(Saltatoria), das besonders intensiv untersucht worden ist und in seiner Organisation als exemplarisch für die Nervensysteme von vielen anderen hemimetabolen Insekten betrachtet werden kann. Das Gesamtnervensystem der Heuschrecke kann in ein Zentralnervensystem, ein peripheres Nervensystem und ein viscerales Nervensystem unterteilt werden. Das Zentralnervensystem ( siehe Abb. 1 ) besteht aus dem Gehirn mit Ober- und Unterschlundganglion und der damit verbundenen ventralen Kette von bilateralsymmetrischen Segmentalganglien (Thorakal- und Abdominalganglien). Die Nervenzellen im Gehirn und in den Segmentalganglien haben ihre Zellkörper (Perikaryen) in einer corticalen Schicht, welche mit Gliazellen assoziiert ist und das zentral gelegene Neuropil umgibt. Das zentrale Neuropil besteht aus den neuronalen Trakten (Bahn) und Kommissuren sowie aus den dendritischen Verzweigungen der Nervenzellen (Dendriten) und aus vereinzelt auftretenden Gliazellen. Die Ganglien des Zentralnervensystems sind durch paarige Konnektive miteinander verbunden; von jedem Ganglion projizieren paarige Lateralnerven und unpaarige Mediannerven in die Körperperipherie. Das periphere Nervensystem besteht aus Sinneszellen, deren Zellkörper meist in der Körperperipherie liegen, sowie aus den Axonen und synaptischen Endigungen (Synapsen) der Motoneurone und anderer Efferenzen. An einigen Nerven des peripheren Nervensystems kommen neurosekretorische Zellen vor, deren Endigungen einzeln oder als Neurohämalorgane aggregiert vorliegen. Das viscerale Nervensystem besteht aus einer Serie kleiner Ganglien und kann in einen Retrocerebralkomplex und ein stomatogastrisches Nervensystem unterteilt werden. Der Retrocerebralkomplex liegt in der Nähe des Gehirns und besteht aus den neurosekretorischen Corpora cardiaca und Corpora allata sowie aus dem Hypocerebralganglion. Das stomatogastrische Nervensystem besteht ebenfalls aus kleinen, miteinander verbundenen Ganglien, die den Schlund und Vorderdarm innervieren. – Das Gehirn der Heuschrecke ist sowohl in Bezug auf die Anzahl der Nervenzellen als auch auf das Gesamtvolumen der weitaus größte Teil des Nervensystems ( siehe Abb. 2 ). Mit etwa einer halben Million Nervenzellen in einem Volumen von fast 6 mm3 hat das Gehirn das zwanzigfache an Neuronen im Vergleich zum übrigen Nervensystem. Das Gehirn besteht wie bei anderen Insekten aus einem großen Oberschlundganglion und aus einem kleineren Unterschlundganglion. Das Oberschlundganglion wird weiter unterteilt in Protocerebrum, Deutocerebrum und Tritocerebrum. Das Unterschlundganglion besteht aus drei Neuromeren, die im wesentlichen drei fusionierte Segmentalganglien darstellen. – Das Protocerebrum besitzt vier charakteristische Neuropil-Areale, nämlich die Pilzkörper, den Zentralkörperkomplex, die lateralen akzessorischen Loben und die optischen Loben (Lobus opticus). Die Pilzkörper sind bilateralsymmetrische Strukturen, die am anterioren Pol des Protocerebrums liegen und für die Verarbeitung von olfaktorischer Information sowie bei Lernprozessen wichtig sind. Die intrinsischen Nervenzellen der Pilzkörper sind die etwa 50000 Kenyonzellen, deren Fortsätze zusammengenommen das Neuropil von Calyx, Pedunculus und Loben der Pilzkörper ausbilden. Der Zentralkörperkomplex besteht aus der Protocerebralbrücke, dem Zentralkörper und den Noduli. Dieser Komplex liegt in der Gehirnregion, in der Axone von einer Hemisphäre zur anderen verlaufen; es wird vermutet, daß er an motorischer Kontrolle sowie an visueller Informationsverarbeitung beteiligt ist. Die beiden lateralen akzessorischen Loben liegen seitlich und posterior zum Zentralkörperkomplex. Über ihre Funktion ist noch wenig bekannt. Die beiden optischen Loben verarbeiten visuelle Information von den Komplexaugen in den drei retinotop organisierten Neuropilschichten der Lamina, Medulla und Lobula. Sie bestehen aus in Säulchen (kolumnar) organisierten neuronalen Untereinheiten, wobei Lamina und Medulla gleich viele kolumnare Strukturen haben wie Ommatidien im entsprechenden Komplexauge vorhanden sind. Zwischen Lamina und Medulla ist ein optisches Chiasma ausgebildet. – Die beiden Hälften des bilateralsymmetrischen Deuterocerebrums bestehen jeweils aus einem großen Antennenlappen und einem kleineren Dorsallobus. Jeder Antennenlappen erhält Eingang von 100000-200000 olfaktorischen Rezeptorzellen (Riechsinneszellen) und gibt seinen Ausgang an andere Gehirnregionen durch einige hundert Projektionsneurone weiter. Die Struktur des Antennenlappens ist durch eine Reihe von sphärischen Neuropilregionen, die als Glomeruli (Glomerulus) bezeichnet werden, gekennzeichnet. Die Glomeruli sind die Stellen, an denen die ausgesprochene Konvergenz von olfaktorischen Eingangsfasern auf Ausgangsneurone stattfindet. – Das Tritocerebrum stellt das Verbindungsglied zwischen 1) den anterioren Gehirnteilen, 2) dem posterioren Unterschlundganglion und den Segmentalganglien und 3) dem visceralen Nervensystem dar. Während die beiden Hälften der anterioren Teile des Oberschlundganglions durch 73 unterschiedliche Kommissuren verbunden sind, werden die beiden Hälften des Tritocerebrums durch eine einzige Tritocerebralkommissur verbunden. – Das Unterschlundganglion besteht aus den fusionierten Mandibular-, Maxillar- und Labialneuromeren und hat somit einen internen Aufbau, der demjenigen der Segmentalganglien ähnlich ist. Es besteht aus etwa 5000 Nervenzellen. Viele von diesen Neuronen sind an der sensomotorischen Kontrolle der paarigen Mundwerkzeuge und der Halsmuskulatur sowie der Speicheldrüse beteiligt. Hinzu kommen aufsteigende und absteigende Projektionsneurone, die auditorische Information übertragen oder an der Kontrolle von motorischen Mustergeneratoren in den Segmentalganglien beteiligt sind. – Die ventrale Kette der Segmentalganglien besteht aus drei thorakalen und elf abdominalen Neuromeren, wobei das dritte Thorakalneuromer und die ersten drei Abdominalneuromere zu einem Metathorakalkomplex und die letzten vier Abdominalneuromere zu einem Terminalganglionkomplex fusioniert sind. Das meiste Wissen über Aufbau und Funktion dieser Segmentalganglien stammt aus Untersuchungen der Thorakalganglien. Jedes dieser drei Ganglien, das Prothorakalganglion, das Mesothorakalganglion und das Metathorakalganglion, ist bilateralsymmetrisch aufgebaut und besteht aus etwa 2000 Nervenzellen, deren Zellkörper zum größten Teil, aber nicht ausschließlich, in der Cortexschicht auf der ventralen Ganglienseite lokalisiert sind. Das zentral gelegene Neuropil besteht aus einer Reihe von Longitudinaltrakten, Dorsoventraltrakten und Kommissuren, sowie aus mehreren diskreten dendritischen Neuropil-Unterregionen und aus Axonbündeln, welche in den peripheren Nerven laufen. Jedes Ganglion hat 6 paarige Nerven und mindestens einen Mediannerven, die alle segmentale Körperstrukturen innervieren und, mit einer Ausnahme, sowohl sensorische als auch motorische Axone enthalten. Alle drei Thorakalganglien sind an der sensomotorischen Kontrolle der Beine beteiligt. An der Kontrolle der Flügel sind vornehmlich das Mesothorakalganglion und das Metathorakalganglion beteiligt, denn Flügel kommen nur an den mesothorakalen und metathorakalen Körpersegmenten vor. Das Metathorakalganglion erhält als einziges Thorakalganglion Eingang von den auditorischen Tympanalrezeptoren (Tympanalorgane). Jedes der vier nicht-fusionierten Abdominalganglien besteht aus einem einzigen Neuromer, das etwa 500-600 Neurone enthält. Jedes dieser Ganglien hat zwei paarige Lateralnerven und zwei Mediannerven; der Feinaufbau des ganglionären Neuropils ist demjenigen der Thorakalganglien vergleichbar, bis auf die geringere Anzahl der neuronalen Elemente. – Die Corpora cardiaca und Corpora allata des visceralen Nervensystems sind wichtige, paarig angelegte neurosekretorische Strukturen, die unmittelbar hinter dem Gehirn liegen und die durch paarige Nervenstränge miteinander verbunden sind. Die bilateralsymmetrischen Corpora cardica erhalten direkte Innervierung vom Gehirn. Sie bestehen jeweils aus einem sekretorischen Lobus, der intrinsische peptiderge neurosekretorische Zellen enthält, und aus einem Speicherlobus, in dem viele Endigungen der neurosekretorischen Zellen des Gehirns vorliegen. Die beiden Corpora allata erhalten ebenfalls neurosekretorischen Eingang vom Gehirn. Sie sind an der neurohormonalen Kontrolle von Entwicklungsprozessen, Häutung und Metamorphose beteiligt (Insektenhormone). Die drei wichtigsten Ganglien des stomatogastrischen Nervensystems sind das Frontalganglion, das Hypocerebralganglion und das Ingluvialganglion. Sie sind alle mit dem Schlund und Vorderdarm assoziiert und wirken bei der Kontrolle dieser Strukturen mit. – Die Tatsache, daß viele der Neurone im Nervensystem der Heuschrecke identifizierbar sind und damit von einem Experiment zum nächsten wiederholt und reproduzierbar untersucht werden können, hat wesentlich zur erfolgreichen Aufklärung von grundlegenden zellulären Eigenschaften und neuronalen Systemleistungen in diesem Modellsystem beigetragen. Auf zellulärer Ebene sind vor allem die Untersuchungen über die Entwicklung des Nervensystems, insbesonders zur Neurogenese und Axogenese, sowie die ausführliche Charakterisierung der Eigenschaften von Neurotransmittern, Neuromodulatoren und Neurohormonen erwähnenswert. Auch die Entdeckung und Untersuchung von Nervenzellen, die keine Axone aufweisen und keine Aktionspotentiale ausbilden, ist erwähnenswert. Auf Systemebene hat besonders die Aufklärung der neuronalen Mechanismen, die lokomotorische Verhaltensweisen wie Gehen, Fliegen und Springen (Lokomotion) steuern, wichtige Einsichten in die Prinzipien von motorischer Kontrolle erbracht (Laufmaschine). Ähnliches gilt für die Analyse der stridulatorischen Gesangsbildung (Gesang, Stridulation). Die Bedeutung des Zusammenspiels von zentralnervösen Oszillatorschaltungen und sensorischer Information aus Propriorezeptoren und Exterorezeptoren für die Verwirklichung von motorischen Mustergeneratoren ist als ein wichtiger und verallgemeinbarer Befund aller dieser Systemanalysen anzusehen.

H.R.

Lit.:Burrows, M.: The Neurobiology of an Insect Brain. Osford 1996.



Heuschrecken-Nervensystem

Abb. 1: Das Zentralnervensystem der Heuschrecken (seitlich betrachtet, ohne Abdominalganglien)



Heuschrecken-Nervensystem

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