Lexikon der Kartographie und Geomatik: Regionale Kartographie
Regionale Kartographie
Werner Stams, Radebeul
1. Ausgangssituation
Die Entwicklung des kartographischen Schaffens und die Herausbildung entsprechender Strukturen vollzogen sich von der rein kognitiven Auffassung des Georaums (vgl. kognitives Kartieren) über die graphische Wiedergabe bis hin zur gezielten Herstellung und Nutzung von Karten und anderen kartographischen Darstellungen regional unterschiedlich. Das verlangt zwingend nach einer zeitlich und räumlich differenzierten Betrachtung in mehr oder weniger scharf abgrenzbaren Räumen und Gebieten als Regionale Kartographie, E regional cartography. Eine weltumspannende Kartographie gab es aus dieser Sicht über die längste Zeit der Kartographiegeschichte nur als eine rückblickende Zusammenschau primär selbständiger nationaler und teilweise übernationaler Regionalkartographien.
Bis in die Gegenwart weisen die institutionellen Einrichtungen der Kartographie und ihrer Anwendungsbereiche (topographische Kartographie, thematische Kartographie und die weiteren Arbeitsfelder, vgl. Übersicht) in den einzelnen Staaten der Erde spezifische Strukturen auf, deren Wurzeln meist weit in der Vergangenheit liegen. Sie sind Ausdruck kultureller, nationaler und aus der jeweiligen Raumausstattung erwachsender Anforderungen und Bedingungen, sind aber auch vom sozialen und wirtschaftlichen Umfeld geprägt. Eine nicht unwesentliche Rolle bei der Festigung und Ausprägung regionaler Besonderheiten kam und kommt dem Wirken von Persönlichkeiten und traditionsreichen Landesinstitutionen zu. Schließlich wirken Besonderheiten der kartographisch abzubildenden Natur- und Kulturlandschaften ihrerseits auf das regionale Kartenschaffen differenzierend ein.
2. Die Aufgabe
Erfassung, Aufarbeitung und Darbietung von Wesen und Leistungen des regionalkartographischen Schaffens begründet eine Fachdisziplin im Gesamtgebäude der Kartographie. Die Aufgaben liegen a) in der Recherche und Analyse, b) in der Herausarbeitung der spezifischen Strukturierung und c) in der Dokumentation der Befunde und Erkenntnisse.
Zu unterscheiden im Sinne eines Strukturschemas sind: 1. Die Organisationsformen der Institutionen für Verwaltung und Kartenherstellung sowie zum Karten- und Datenvertrieb. 2. Die Strukturen der technischen Herstellung einschließlich der Beschaffung analoger und digitaler Basisdaten. 3. Umfang sowie graphische und inhaltliche Gestaltung der erzeugten und verfügbaren kartographischen Medien. 4. Die Wirksamkeit eingerichteter Institutionen für die kartographische Fachausbildung und Forschung. Im Ergebnis lassen sich aus den Befunden im Vergleich Erkenntnisse ableiten, die das Leistungsniveau bestimmter Strukturen zu bestimmten Zeiten aufdecken. Dabei ist den Wirkungen der Bemühungen der Gremien für internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf die Formierung effektiver Strukturen nachzugehen.
3. Die regionalen kartographischen Struktureinheiten
Aus historischer und gegenwärtiger Sicht bestehen drei Ebenen, von denen in jüngerer Zeit die mittlere dominierend in Erscheinung tritt. Eine obere Ebene bilden Großräume der Erde mit eigenständiger Kulturtradition. Auf dieser Ebene vollzogen sich nur langfristig erkennbare Verschiebungen, Überlagerungen und Verschmelzungen. Gegenwärtig lassen sich mit unterschiedlicher Deutlichkeit die in der Übersicht (Abb.) ausgewiesenen erkennen und begründen (vgl. 5.).
Die mittlere Ebene erfasst die staatlichen Strukturen. Vermessungswesen und Kartographie rechnen in wesentlichen Teilen zu den Hoheitsaufgaben der jeweiligen Staaten. Aus dieser Sicht bildet heute jeder der 184 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, eine regionalkartographische Einheit; denn jeder moderne Staat verfügt über eine bestimmte Ausstattung und entsprechende Institutionen, deren Aufgaben und Leistungen sich aus der Wirtschaftskraft des Landes, aus seiner Fläche, seinem Bevölkerungspotenzial und bestimmten Umfeldbedingungen ergeben. Besonderes Gewicht kommt den nationalen Kartographien zu, die Mitglied der Internationalen Kartographischen Vereinigung sind. Es sind meist zugleich die Staaten, in denen eigene Fachzeitschriften bestehen (vgl. kartographische Periodika). In historischer Sicht haben sich national und staatlich geprägte Regionen erst jeweils auf bestimmten Entwicklungsniveau herausgebildet, haben oft eine kürzere oder längere Blütezeit erlebt und sind danach teilweise in ihrer überregionalen Bedeutung abgesunken. Das nationale Schrifttum zur Kartographie geht fast immer von der Existenzform einer primär in einem oder für einen Staat wirkenden Kartographie aus.
Eine untere Ebene tritt zumindest aus mitteleuropäischer Sicht nur in bestimmten Räumen schärfer hervor. Insbesondere der über lange Zeit fehlende staatliche Zusammenschluss Italiens und die schwache Zentralgewalt im Deutschen Reich vor 1806 und dann im Deutschen Bund von 1815 bis 1867 hat hier wie dort klar ausgeprägte regionale Kartographien auf Länderebene entstehen lassen, die speziell in Deutschland bis in die Gegenwart nachwirken. Insbesondere in älterer Zeit konzentrierte sich das Kartenschaffen sogar lokal auf einzelne meist auch kulturell und wirtschaftlich hervortretende kartographische Zentren.
4. Die inneren Strukturen regionaler Einheiten
Die spezifischen Besonderheiten regionaler kartographischer Einheiten auf der mittleren Ebene erwachsen aus dem Einwirken der jeweiligen Strukturen der Vermessungs- und Kartographie-Infrastruktur. Es entstehen Organisationsformen, insbesondere der amtlichen (staatlichen) bzw. behördlichen Kartographie, die in bestimmter Weise in bestehende Verwaltungsstrukturen eingebunden sind. Aus ihrer Stellung erwachsen Strukturen, die den zugewiesenen Aufgaben mit meist landesspezifischen Schwerpunkten entsprechen; die Einbindung kann in militärische, zivile oder in beide Bereiche erfolgen. Diese Organe entwickeln Projekte und Schaffen für ihre Verwirklichung die notwendigen wissenschaftlichen, technologischen, materiellen und personellen Voraussetzungen. Der tragende Bereich ist dabei i. d. R. Landesvermessung und Schaffung von Landeskartenwerken. Zur Entwicklung und Erneuerung müssen Institutionen der Ausbildung eingerichtet werden, die über die Lehre hinaus zum Träger wissenschaftlichen kartographischen Schaffens werden. Zur inneren Verständigung entstehen berufsständische Organisation (Gesellschaften, Vereine), zur Kommunikation nach außen bilden sich Publikationsorgane heraus; privatwirtschaftliche kartographische Betriebe, Institute und Ingenieurbüros decken den sich entwickelnden Bedarf einschließlich der Schulen an kartographischen Erzeugnissen ab. Die Formen der fachlichen Vernetzung dieser kartographischen Zweige und Bereiche untereinander und ihre Einbindung in die Landesstrukturen der Geodäsie, der Geographie und der Geowissenschaften, aber auch in den Beziehungen zu den Medien, drücken sich Wesen und Einmaligkeit einer kartographischen Region aus.
Solche Entwicklungen vollzogen und vollziehen sich in den einzelnen Staaten und Großräumen der Erde zu unterschiedlichen Zeiten. Sie sind auch gegenwärtig unterschiedlich weit fortgeschritten.
5. Gang der Entwicklung
Die Frühzeit
In den frühen Hochkulturen unterscheiden sich klar der babylonisch-sumerische Kulturkreis, der altägyptische mit einer praktischen Bedürfnissen dienenden Vermessung sowie der chinesische Kulturkreis ostasiatische Kulturen (Korea, Japan). Nur wenige Belege finden sich für die frühen und späteren süd- und südostasiatischen Kulturen (indischer Kulturkreis) und die altamerikanischen Kulturen.
Eine über 800 Jahre kontinuierliche Entwicklung vollzog sich von der Herausbildung eines frühen Weltbildes in frühgriechischer Zeit bis zum Untergang des Römischen Reichs (Antike; griechische Kartographie, römische Kartographie). Im arabischen Kulturkreis wurde auf antiker Grundlage unter Einbeziehung von Mathematik und Astronomie ein islamisches Weltbild geschaffen (islamische Kartographie).
Das für die Bildung bestimmende christliche Weltbild des Früh- und Hochmittelalters im westeuropäischen Kulturkreis tradierte nur rudimentäre Züge des klassischen Erd- und Weltbildes und verknüpfte es mit graphischen Darstellungen, die sich über viele Jahrhunderte auf kleine schematische Erdbilder beschränkten (z. B. Radkarten, Klimazonenkarten).
Die Kulturen um das Mittelmeer blieben durch Schifffahrt und Handel verbunden, ein Innovationsherd. Relativ unvermittelt traten Pilotbücher mit nautischen Instruktionen auf, die seit dem 13. Jh. als Portolankarten bezeichnet, in ziemlich einheitlicher Form in mehreren Zentren des Mittelmeerraums hergestellt und gehandelt wurden.
Die westeuropäische Dominanz
Das Wiederauffinden und die Übersetzung des überlieferten antiken Wissens brachte mit der "Geographie" des Ptolemäus (erste Druckausgabe 1477) nachhaltige Impulse für die europäische Kartographie.
Buchdruck und Druckgraphik in Verbindung mit hochentwickelter Militärtechnik förderten die "Europäisierung" der Erde. Mit unterschiedlichem nationalen Ansatz haben großmaßstäbige kartographische Darstellungen in Westeuropa ihre Wurzeln einerseits in Feldvermessung und Markscheidewesen und andererseits in der Ende des 15. Jhs. aufkommenden Landschaftsmalerei, in deren Rahmen repräsentative perspektivische Stadtbilder zum Stadtplan, Landschaftsbilder zur Bildkarte und weiter versachlicht zur topographischen Regionalkarte (Gebietskarte) führten.
Mit Beginn der 17. Jhs. entstanden erste, auch für geodätische und kartographische Arbeiten zuständige nationale Organisationsformen (Royal Society of London, 1663; académie des sciences, Paris 1666). Landesvermessung und -kartierung wurden als landesherrliches Hoheitsrecht aufgefasst und somit für die weitere Differenzierung im Kartenschaffen maßgeblich.
Auch in der auf wenige Zentren konzentrierten Verlagskartographie (kartographischer Verlag) verstärkten sich seit der 2. Hälfte des 17. Jhs. nationale Eigenarten und Besonderheiten. Das führte im lockeren deutschen Reichsverband gegenüber Frankreich und England (Französische Kartographie, Britische Kartographie) zu einer Vielzahl kleiner Zentren (Deutsche Kartographie).
Nach Qualität und Quantität ging die Führungsrolle von den Niederlanden (niederländische Kartographie) seit Ende des 17. Jh. an Paris über. Als neues Zentrum erlebte Wien seit 1780 einen enormen Aufschwung (Österreichische Kartographie). Seit Mitte des 19. Jhs. ging die Führungsrolle weltweiter Kartographie an deutsche kartographische Betriebe (Gotha, Leipzig, Frankfurt) über. Ein von Anfang an stark differenziertes kartographisches Schaffen bildete sich in den Vereinigten Staaten von Amerika aus (US-amerikanische Kartographie). Von europäischen Normen beeinflusst entwickelte sich nationale Kartographie in zahlreichen überseeischen Staaten, insbesondere in den lateinamerikanischen Staaten, erst später auch in Japan und in China.
Aus den im 19. Jh. entstandenen staatlichen, militärischen, wissenschaftlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen und Strukturen im geodätischen, topographischen und kartographischen Bereich sind mit gewissen zeitlichen Verschiebungen zwischen den europäischen und überseeischen Staaten die modernen, bis heute bestehenden Einrichtungen hervorgegangen.
Wege zur Globalisierung
Neben dem nationalstaatlich geprägten Kartenschaffen mit staatlich geregelter topographisch-kartographischer Ausbildung an den jeweils vom Militär geführten Ingenieurakademien entstanden seit der Mitte des 19. Jh. Ansätze einer Globalisierung. Zunächst übernahmen die sog. Mutterländer Vermessung und Kartierung ihrer Kolonialgebiete. Speziell im Britischen Weltreich (britische Kartographie) wurden in den großen Überseebesitzungen wie Indien, Nordamerika, Australien (Australische Kartographie) und Südafrika zwar eigene Vermessungsinstitutionen etabliert, die aber vom Ansatz her britische Eigenheiten bewahrten. Zum anderen drängten Welthandel und Weltwirtschaft auf Vereinheitlichung. So entstanden für die Kartographie maßgebliche internationale Vereinbarungen, wie die Meterkonvention, ein weltweiter Zeitdienst, über international verbundene Gradmessungen ein Internationales Erdellipsoid und Internationale Weltkartenwerke. In die gleiche Richtung führte die Zentralisierung der Daten ozeanographischer Forschung wie auch die Standardisierung geologischer Karten und später der Luftfahrtkarten.
Spürbare Impulse zu weltweiter Zusammenarbeit gingen von der 1961 gegründeten Internationalen Kartographischen Vereinigung (ICA/ICA) und von den für die Kartographie relevanten Bereichen der Internationalen Geographischen Union (IGU) sowie der Internationalen Geodätischen Union (IAG), aber auch von der UNO aus. In noch stärkerem Maße führt die Entwicklung der digitalen Technologien der Kartenherstellung und Kartennutzung sowie der Geoinformationssysteme, oft in Verbindung mit Fernerkundungsdaten zum Abbau nationaler Besonderheiten.
6. Situation und Perspektive Neben gewissen Gemeinsamkeiten bestehen auch heute noch in den einzelnen Staaten auffällige und bemerkenswerte Unterschiede in den Organisationsformen, der Trägerschaft sowie der inneren Gliederung, aber auch im Hinblick auf Herstellung, graphische Gestaltung, Vertrieb und Nutzung kartographischer Medien. Eine gewisse Vereinheitlichung hat sich hinsichtlich der Ausbildung des Fachpersonals (Kartographieausbildung) herausgebildet, wobei europäische Normen meist maßgebend waren, jedoch nationale, teilweise auch übernationale Besonderheiten bis heute erhaltengeblieben sind. Durch den ökonomisch bedingten Trend zur Standardisierung, Austauschbarkeit und Kompatibilität digitaler Geodaten einerseits und die Nutzung weltumspannender Datennetze für sämtliche Bereiche kartographischer Tätigkeit andererseits (vgl. Internet-Kartographie) wurde schließlich ein Globalisierungstrend eingeleitet, der regionale Besonderheiten immer mehr in den Hintergrund verdrängt. Des Weiteren gewinnen solche neuen Medien und Verfahren wie 3D-Darstellungen (vgl. 3D-Kartographie), dynamische Darstellungen (vgl. kartographische Animation), visuelle Simulationen und Hologramme (vgl. holographische Karte) für Präsentation, Dokumentation und Erkenntnisgewinnung immer mehr an Bedeutung.
Nähere Untersuchungen dieser Vorgänge und der sich verändernden Strukturen einschließlich der diesbezüglichen Einflussfaktoren stehen jedoch noch aus.
Literatur: [1] BERTHON, S., ROBINSON, A. (1992): Das Gesicht der Erde, Braunschweig. [2] KUPČIK, I. (1980): Alte Landkarten, Praha. [3] PARRY, R.B. & PERKINS, C.R. (2000): World Mapping Today, London usw. [4] RHIND, D.W. & FRASER, D.R. (Hrsg.) (1989): Cartography Past, Present and Future. London, New York. [5] KRAAK, J.M. & BROWN, A. (Hrsg.) (2001): Web Cartography, London.
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