Astro-Lexikon Q 5
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Quintessenz
Die Etymologie dieses Begriffs meint eigentlich das 'fünfte Seiende' (lat. quinta essentia). Das bezieht sich
auf ein fünftes Element neben den vier bekannten Erde, Wasser, Feuer und Luft, die die frühe griechische
Naturwissenschaft kannte. Das neue, fünfte Element Äther wurde von Aristoteles eingeführt. Die
Alchemie kannte diese Substanz als Spiritus, den Stoff des Lebens. Der Äther erlangte zur Jahrhundertwende ins
20. Jahrhundert noch einmal Berühmtheit, weil seine Existenz als Trägermedium der elektromagnetischen
Wellen - analog zu Luft als Medium bei akustischen Wellen - gefordert wurde. Im Michelson-Morley-Experiment suchten die
Physiker vergeblich nach diesem Weltäther - Albert Einstein klärte dieses Problem ganz einfach dadurch, dass
es gar keine Notwendigkeit für einen Weltäther gebe. Das Resultat des Michelson-Morley-Experiments ist in völliger
Übereinstimmung mit Einsteins Relativitätstheorie, einer bis heute mehrfach bestätigten
und bewährten, physikalischen Theorie.
Quintessenz in der Kosmologie
In der Kosmologie erlebte der Begriff Quintessenz eine Renaissance: Der Kosmologe Paul Steinhardt
und Kollegen belebten dieses Wort neu, weil sie eine zeitlich veränderliche Dunkle Energie augenzwinkernd
als fünftes Element neben den vier anderen wesentlichen Ingredienzen der Kosmologie, nämlich Materie
('Erde'), Strahlung ('Feuer'), Neutrinos ('Luft') und kalte Dunkle Materie ('Wasser')
einordnen wollten. Unter Quintessenz versteht man eine Alternative zum Konzept einer kosmologischen
Konstante: die kosmologische Konstante wird als fester, konstanter Wert einer Vakuumenergiedichte interpretiert, die das
Universum homogen ausfüllt (siehe dazu auch Quantenvakuum).
Die Quintessenz hingegen ist eine zeitlich veränderliche Dunkle Energie, die
inhomogen den Raum ausfüllt. Mit der Ausdehnung des Universums nimmt die Energiedichte
in Quintessenz-Modellen ab. Die Zustandsgleichung der Dunklen Energie zeigt
einen hohen negativen Druck, was ihre Interpretation als Antigravitation nahe
legt. Diese Antigravitation treibt das Universum auseinander und resultiert in der beobachtbaren, kosmischen Expansion
(Supernova- und WMAP-Daten).
Motivation zur Quintessenz
Motiviert war dieser neue, zeitabhängige Ansatz der Dunklen Energie im Quintessenz-Modell im Wesentlichen durch zwei Probleme:
- Das Problem der kosmologischen Konstante besteht in der Kleinheit ihres Wertes. Die korrespondierende Energiedichte
liegt im Bereich von Millielektronenvolt (meV) und ist damit von der Masse her vergleichbar mit
dem hypothetischen Axion. In der Physik ist es schwierig zu erklären, weshalb diese Dunkle Energie
fast null, aber eben nicht exakt null ist.
- Das Koinzidenzproblem besteht darin, dass die Größenordnungen von der
Energiedichte der Dunklen Energie gerade mit derjenigen der übrigen Dunklen Materie und baryonischen Materie in der aktuellen Epoche
(zufällig?) übereinstimmt.
Die Lösung der Probleme: Quintessenzen
Beide Probleme können durch eine zeitliche Entwicklung der Energiedichte der Dunklen Energie gelöst werden! Die
neuen Schwierigkeiten, die man sich damit einhandelt, stecken in der genauen Wahl des Ansatzes für die Quintessenz.
Mathematisch stellt sich die Quintessenz als Energiedichte eines sich zeitlich langsam entwickelnden
Skalarfeldes dar. Dieses Skalarfeld ist Bestandteil einer Lagrangefunktion, die die
komplette Dynamik des Universums für alle Zeiten festlegt.
Ein möglicher Ansatz für ein solches Skalarfeld heißt
Cosmon, das als extrem leichtes Teilchen interpretiert
wird (C. Wetterich 1987). Seine Masse läge bei nur 10-33 eV! Dieser winzige
Wert erklärt, weshalb das Cosmon noch nicht in hochpräzisen irdischen Experimenten wie den
Teilchenbeschleunigern aufgetreten ist: es versinkt sozusagen im Rauschen unterhalb der
Empfindlichkeit. Auf kosmischen Skalen macht sich diese fein verteilte Energie jedoch bemerkbar.
Das Cosmon als Skalarfeld koppelt im einfachsten Falle nur an die Gravitation und nicht an
Baryonen und Leptonen. Mit diesem Ansatz formulieren die Kosmologen
einen Satz gekoppelter Feldgleichungen für Hubble-Parameter,
Skalarfeld und Energiedichte. Dann vergleichen sie die sich ergebende Dynamik des Modell-Universums mit der tatsächlich beobachteten
Dynamik des Universums, um zu entscheiden, wie gut der Skalarfeldansatz ist.
Gegenstand der Erforschung von Quintessenz-Modellen ist, ob der Ansatz eines exponentiellen Potentials für das Skalarfeld
richtig ist, ob auch die Kopplung des Feldes an Dunkle Materie berücksichtigt werden muss oder ob so genannte kinetische Terme
in der Lagrangefunktion enthalten sind.
In einem Modell, das man Spintessenz nennt, nimmt man sogar an, dass das Skalarfeld
komplexwertig ist und rotiert (engl. spinning field). Die Rotation nimmt dabei mit der Expansion des Universums ab
(L.A. Boyle, R.R. Caldwell & M. Kamionkowski, 2001, astro-ph/0105318).
Außerdem existieren Modelle mit so genannter erweiterter Quintessenz (engl. extended quintessence). Hier koppelt
das Skalarfeld auch an den Ricci-Skalar (Krümmungsskalar, siehe auch Krümmungs- oder
Riemann-Tensor). Kosmologen nennen das auch NMC-Quintessenz (für Non-Minimal
Coupling), weil die Kopplung des Skalarfelds an die skalare Krümmung nicht klein ist. Eine Folge dieses Ansatzes ist,
dass nicht nur die Dunkle Energie zeitlich und räumlich variiert, sondern auch eine der fundamentalen Naturkonstanten, nämlich
die Gravitationskonstante G (Perrotta et al.)!
Von so genannten Tracking-Lösungen (engl. tracking solutions) spricht man bei Quintessenz-Modellen, die sehr
unempfindlich gegenüber Anfangsbedingungen sind, um den Wert der aktuellen, 'gemessenen' Dunklen Energie zu erreichen.
Entscheidung durch die Astronomie
Die Kosmologen hoffen, dass die Beobachtung der kosmischen Hintergrundstrahlung (Verteilung der so
genannten akustischen Peaks in Power-Spektren) und von weit entfernten Supernovae vom Typ Ia (gute
Standardkerzen, die eine Veränderung der absoluten Helligkeit aufgrund
einer variablen Dunklen Energie verraten würden) Beschränkungen auf Modelle mit kosmologischer Konstante oder eines bestimmten
Quintessenz-Modells bringen.
Die aktuellen Messungen an weit entfernten Supernovae und die Daten des Mikrowellen-Satelliten WMAP sprechen eher für die
kosmologische Konstante Λ als für die Quintessenz, allerdings kann letztere nicht ausgeschlossen werden. Die Permanenzmessungen
an weit entfernten Supernovae Typ Ia ergaben bisher nämlich keine zeitliche Variabilität der kosmologischen Konstante
(Wang & Tegmark 2004, astro-ph/0403292, Riess et al. 2004,
astro-ph/0402512, Riess et al. STScI/NASA 2006).
Die Phantom-Energie (Caldwell et al., 2003) ist eines der drastischsten Modelle mit
zeitlich veränderlicher Dunkler Energie: es unterscheidet sich wesentlich von den Lambda- und Quintessenz-Kosmologien darin,
dass die Expansionsrate des Universums nicht konstant bleibt oder stetig abnimmt, sondern zunimmt! Das hat fatale Folgen: den
Big Rip des Universums. Die Beschränkung aus aktuellen Daten ist, dass sich der Big Rip frühestens
in 50 Mrd. Jahren ereignen könnte, aber die Phantom-Energie wird aufgrund der aktuellen Beobachtungsdaten nicht favorisiert.
In der experimentellen Kosmologie wird weiterhin auf der Grundlage immer besserer Daten geprüft werden, inwiefern kosmologische
Konstante, Quintessenz-Modelle, Phantom-Energie oder andere Formen Dunkler Energie in Frage kommen. Ab dem Jahr 2008 wird der
ESA-Mikrowellen-Satellit PLANCK neue und noch präzisere Daten liefern - vielleicht mit einem neuen Favoriten unter den Dunklen Energien?
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© Andreas Müller, August 2007
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